Willkommen!
Liebe Besucher:innen, am vergangenen Mittwochmorgen, zwei Tage vor unserer Nacht der Lieder im Theaterhaus, musste ich mit 40 Fieber zügig zum Arzt: Infekt mit hohen Entzündungswerten, Pech. Mit Infusionen, Antibiotika und anderem Zeug kam ich über die Runden. Das Publikum erlebte zwei schöne Abende im ausverkauften T1. Für diese Show hatte ich eine Textmontage aus eigenen Beständen und neuen Passagen zum Vortragen angefertigt:
Schönen guten Abend, verehrtes Publikum,
es ist eine Freude zu sehen, dass Sie alle hier sind bei der 24. Nacht der Lieder – alle wie immer voll elastisch und erwartungsfroh. Irgendwas muss wohl dran sein an dieser Veranstaltung, ich komm nur nicht dahinter, was.
Eine Show zur Weihnachtszeit dürfe auf keinen Fall politisch sein, höre ich immer wieder, nur schön und berührend oder womöglich atemlos tödlich wie Helene Fischer.
Na ja. Liebes Publikum, eine unpolitische Show kann es im Grunde gar nicht geben. Ich maß mir nicht an, mir Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ als Spiegel der Gegenwart vorzuhalten. Es entstand zwischen 1934 und 1938, und darin heißt es:
Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. / Weil es ein Schweigen über so viel Untaten einschließt.
Keine Bange. Noch können wir Gespräche führen über Apfelbäume und Tannenbäume und Purzelbäume. Wie aber soll eine Show wie unsere unpolitisch sein, wenn sich so viele unterschiedliche Menschen auf der Bühne begegnen. Da könnte glatt jemand fragen, ob die alle zusammen noch ins Weltbild eines Kanzlers aus dem deutschen Sauertopfland passen.
Liebes Publikum, bei der Suche nach Künstlerinnen und Künstler für die Nacht der Lieder frage ich nicht: Wo kommst du denn her, oder: woher kommt denn Deine Oma? Wir suchen nämlich eine Cellospielerin mit nordafrikanischen Wurzeln. Nein. In Wahrheit funktioniert das so: Du hörst jemanden spielen, und dann gehst du hin und sagst: Mensch, könntest Du mal bei uns mitmachen?
Die Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, die sind da. Die leben hier. In Stuttgart. So einfach ist das.
Und weil ich Spaziergänger bin, nicht nur in Wanderschuhen, sondern auch in Gedanken, treffe ich immer irgendwo Menschen, die gute Musik machen.
In meiner Straße ist Musik. Hier die Musikhochschule, da die John-Cranko-Schule, nur einen Steinwurf entfernt die Staatsoper. Täglich komme ich vor meiner Tür an dem Haus mit dem Schild „Sängerstraße“ vorbei. Dort arbeitet der Geigenbauer Antoine Müller, geboren in Luxemburg. Als ich ihn in seiner Werkstatt besuche, um ein paar Zeilen über ihn zu schreiben, streckt er mir ein Büschel entgegen, das ich für Christbaumschmuck halte. Es sind weiße Hengsthaare. Damit bespannt er Geigenbögen. Dann zeigt er mir einen schwarzgrauen Lappen: das Daumenleder für Streichinstrumente. Diese Sachen besorgt er sich bei Berbern in der afrikanischen Wüste, die nach alter Sitte die Haut ihrer Ziegen nur gegen Gold verkaufen. „Geigen sind nicht unbedingt für Veganer“, sagt Müller.
Nach seiner Lehre in Bayern und Wanderjahren mit den Stationen München, Helsinki, Paris kommt er 1994 nach Stuttgart. Seit 2010 ist er in der Urbanstraße, Ecke Sängerstraße. Nur noch selten baut er eine Violine, er repariert und restauriert. Oft sehr wertvolle Exemplare. Darf man eigentlich niemandem erzählen.
Wenn Herr Müller redet, hat man das Gefühl, Geige, Bratsche und Cello seien nicht aus Holz, sondern aus Fleisch und Blut. Seine Arbeit erfordert die Sensibilität eines Arztes, der seine Patienten noch als Menschen behandelt.
Bei Herrn Müller kann man Instrumente auch mieten. Ich sollte mir ein Cello in meine Bude stellen. Hat mehr Klasse als ein Tannenbaum. Und nadelt nicht.
Vor dem Fenster der Werkstatt wurde unlängst ein Ahornbaum gepflanzt. Aus diesem Holz, sagt Müller, werden auch Geigen gemacht. Und je länger er erzählt, desto mehr begreife ich, warum Weihnachtsgeschichten mit Weihnachten gar nichts zu tun haben müssen. „In meiner Werkstatt“, sagt er, „herrscht das ganze Jahr Weihnachtsstimmung.“
Ich kann nicht Cello spielen. Muss mir anders helfen. Neulich habe ich ein neues Büchlein des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann gelesen, eine Hommage an ein Haushaltsgerät: „Der Plattenspieler“, heißt das Buch, Untertitel: „Dinge des Lebens“. Einmal geht es um Thomas Manns Beziehung zum Plattenspieler und seine Betrachtung dieser ungeheuerlichen Maschine in seinem Roman „Der Zauberberg“. „Thomas Mann“, schreibt Liessmann, „lässt keinen Zweifel daran: Das Grammophon war kein Spielzeug, kein Abspielgerät, sondern ein neuartiges Musikinstrument.“
Dieses Instrument mit seinem rotierenden Teller schützt einen gelegentlich davor, durchzudrehen. Und die Plattennadel lässt sich nicht irritieren, wenn du ihr ganz unterschiedliche Sounds unterschiebst. Jazz und Hip-Hop, Beethoven oder andere Schwermetaller. Ich höre gern unterschiedlichste Musik in direkter Reihenfolge. Wie beim Herumspazieren in den Straßen treffen verschiedene Welten aufeinander, und mit diesem Stadtbild im Kopf gestalte ich auch Die Nacht der Lieder. Es kommt was zusammen, wie im Leben. Und weil ich nicht nur zum Spazieren auf die Straße gehe, habe ich gelernt: Wichtig für Hirn und Seele ist ein gesundes Nebeneinander von Grammophon und Megafon.
Lange bin ich nur in Cowboystiefeln durch die Stadt gewandert, mit hochhackigen, kunstvoll verarbeiteten Schuhen in allen Varianten, über die ich heute angesichts der Tierschützer besser schweige. Vielleicht hatte ich einen Dachschaden, aber immer Freigang. – Vor zehn Jahren habe ich ein Buch mit dem Titel „In Stiefeln durch Stuttgart“ zusammengestellt. Meinem ehrenwerten Berliner Verleger unterlief seinerzeit ein kleines Missgeschick. Als das Buch in den Läden lag, stand groß auf dem Deckel: „In Steifeln durch Stuttgart“. Ei, ei. Der Steifel steckt im Detail. Nachträglich wurden die Bücher mit einem rasch angefertigten Umschlag und später in korrigierter Auflage ausgeliefert. Es wurde verkauft, auf Steifel komm raus.
Auch bei extrem hohen Temperaturen bin ich in Cowboyschuhen über den Asphalt gestiefelt. Ich weiß nicht genau, warum: Ich glaube aber, in Stiefeln spazierst du aufmerksamer durch die Welt als in Turnschuhen.
All das fiel mir im vergangenen Sommer wieder ein, als ich bei 33 Grad im Schatten zu einem Imbiss in der Neckarstraße ging. Die Bude heißt „Hotdogle“. Normalerweise zieht es mir bei dieser schwäbischen Verzwergungsform die Stiefel aus. Da ich aber mit Rücksicht auf meine Lendenwirbel nur noch bei besonderen Anlässen wie etwa der Nacht der Lieder welche trage, kann ich den Laden in aller Ruhe aufsuchen. Trotz Geflügel- und Rind-Angebot bestelle ich die Vegan-Version. Das Kraut- und Gurkenmaterial im Hotdog verdrängt eh den Geschmack einer echten Wurscht. Ein amerikanischer Hotdog am Straßenrand geht mir runter wie ein Countrysong aus einem Transistorradio. Erbaulicher als der Dreck, den uns Tag für Tag Donald Trump serviert.
Vor dem Imbiss stand lange das Schild „Neueröffnung“. Immer so platziert, dass ich vor dem Haus Nummer 150 den Stein nicht sehen konnte. Eines Tages musste ich in die Hocke gehen, weil mich ein junger Mann darauf aufmerksam machte, dass mir ein Zehn-Euro-Schein aus der Hosentasche gefallen war. Da sah ich den Stolperstein mit dieser Inschrift:
Hier wohnte Lazarus Karschinierow. Jg 1877. Deportiert 1942. Theresienstadt. Verhungert 4. 5. 1945.
Ich kann nicht präzise beschreiben, was ich in diesem Moment dachte oder fühlte, als ich über dem Stolperstein in der Hocke saß, mit meinem fetten Hotdog in der Hand und das Bild vor Augen, wie Herr Karschinierow aus diesem alten Haus in der Neckarstraße 150 ein paar Tage vor Kriegsende im KZ vor Hunger krepierte.
In meiner Hilflosigkeit gehe ich auf den Jungen zu, der meinen Zehn-Euro-Schein gerettet hat. Sorry, ich bin etwas neugierig, sage ich: Weißt du zufällig, was dieser Stein unter dem Aufsteller bedeutet? Klar, antwortet er, das ist ein Gedenkstein für ermordete Juden. Ja, sage ich, man nennt ihn Stolperstein. Genau, Stolperstein, sagt der Junge.
Er erzählt mir, dass er türkische Eltern hat und in Ostheim geboren wurde. Dort ging er in die Schule in der Landhausstraße, eine Institution, die von außergewöhnlich vielen Schülerinnen und Schülern aus aller Welt besucht wird. Dort hat er gelernt, was ein Stolperstein ist. Das Haus, aus dem die Nazis den Mann geholt haben, steht noch da wie früher, sage ich. Alles nicht so lange her, Junge. Ja, sagt er, aber die meisten in meinem Alter kennen die Gedenksteine nicht.
Auf dem Gelände der Ostheim-Schule hat der Fotograf Lutz Schelhorn vor Jahren Reportagebilder gemacht. Eines davon hat mir so gut gefallen, dass es bis heute in meinem Wohnzimmer hängt. Man sieht darauf das Seitenprofil eines Mädchens mit buntem Kopftuch und einem Lolly im Mund, dicht daneben den von einem Hütchen mit Leopardenfellmuster verdeckten Kopf eines anderen Mädchens.
Die Fotografie zeigt das Bild meiner Stadt. Eines, das den Rechtsextremen, ihrer menschenverachtenden Gefolgschaft und auch provinziellen Spießern ein Dorn im Auge ist. Ich weiß nicht, wie lange mein Bild noch unser Stadtbild spiegeln wird. Demokratiefeinde bekämpfen die Gemeinsamkeit des Unterschiedlichen, die Forderung „Nie wieder“ ist zur Phrase verkommen, während viele achtlos über Gedenksteine stolpern.
Liebes Publikum, jetzt habe ich in diesen Zeiten von einem Ahornbaum erzählt und von einem Hotdogle. Im Sinne Brechts aber darf es kein Schweigen über die Untaten geben, kein Schweigen über die, die unsere demokratischen Errungenschaften zerstören wollen und damit unsere Lebensweise, die man Kultur nennt. Wenn wir sie so weitermachen lassen, gibt es eines Tages womöglich keine Show mehr wie heute Abend. Wir müssen also etwas tun.
Ich habe Hoffnung, sofern wir handeln. Und dann singen wir nicht: Gute Nacht, ihr Lieder. Wir singen: Wir kommen wieder – zur Nacht der Lieder!
(Auffallend viel Beifall)
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2026 steigt die 25. Show seit 2001 (eine wurde 2020 wegen Corona abgesagt). Der Vorverkauf ist bereits eröffnet – hier der Link zu Infos & Tickets der Jubiläumsgala