Willkommen!
Liebe Besucher:innen, heute wieder eine neue Homepage-Kolumne, geschrieben wie immer im 14-Tage-Rhythmus. Im Grunde ist diese Reihe eine etwas absurde, skurrile Unternehmung. Selbstverständlich wünscht sich ein Schreiber möglichst viele Leser:innen. Und selbstverständlich weiß ich, dass ich mit meiner Homepage nur wenig Publikum erreiche. Ich kann die täglichen Klick-Zahlen sehen. Wenn ich eine neue Homepage-Kolumne auf Facebook und Instagram ankündige und verlinke, steigt die Klick-Zahl, sie explodiert nicht. Also könnte ich mir sagen: Lass das Ganze, schalte die Homepage ab, es lohnt sich nicht. Höre auf, Kolumnen gewissermaßen für den Eigenbedarf zu tippen. Resonanz gib es eh keine. Und so ähnlich könnte ich auch meine anderen Übungen sehen: Zu den politischen Veranstaltungen, die ich zusammen mit meinen Mitstreiter:innen des Netzwerks Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie organisiere, kommen die Menschen auch nicht in Massen (immerhin: Es kommen welche).
Die meisten Menschen verstehen nicht oder wollen nicht wissen, dass man gegen den bedrohlichen Rechtsruck, der immer schlimmer wird, kaum andere Mittel hat, als Orte für Versammlungen zu schaffen und sie zu besuchen: Treffpunkte für demokratisch Gesinnte, Ideen-Stationen zur Vorbereitung neuer Aktivitäten, für weiteres Engagement.
Viele dachten und denken immer noch, sie könnten sich mit ihren im Internet geposteten Sprüchen wie „Wir sind mehr“ oder „Nie wieder“ in Sicherheit wiegen, nach dem Motto: „Ich zeige ja Haltung“. Schon als ich den Spruch „Wir sind mehr“ zum ersten Mal sah, dachte ich: Was für ein Unsinn, politische Bewegungen mit üblichem Zahlendenken zu bewerten. Wenn eine Partei von Rechtspopulisten und Rechtsextremen an etwa zehn Prozent Wählerstimmen herankommt, ist sie in der Lage, eine Gesellschaft mit ihrer Propaganda zu vergiften. 63 Prozent der Bevölkerung stimmen laut einer ZDF-Umfrage dem „Stadtbild“-Geraune des Kanzlers zu. Sind wir mehr? Und wer sind eigentlich WIR?
Nachtrag: Anscheinend ist der ZDF-Bericht manipuliert, jedenfalls mehr als fragwürdig, siehe hier: Volksverpetzer
Propaganda lässt sich nicht mit dem Aufdecken der Lügen bekämpfen. Sie funktioniert auf emotionaler Ebene, ihr Kern ist die dreiste Lüge, die Maßlosigkeit, die Menschenverachtung. Nur gemeinsames Handeln kann gegen die Beeinflussung und Manipulation von Menschen helfen. Wie dieses Handeln aussehen soll? Darüber sollten wir, die etwas tun wollen, täglich reden. Es gibt kein Patentrezept.
Und jetzt zurück zu meinen Kolumnen. Willkommen, Treue und Verirrte, das sehe ich so:
Jede Woche mache ich zweimal Muskeltraining bei Kieser, jeden Sonntag gehe ich aus Konditionsgründen joggen, und jede Woche schwitze und schwimme ich im Mineralbad Berg zur Stabilisierung der Abwehrkräfte. Das mache ich nicht, um mich auf die Olympischen Spiele vorzubereiten. Ich will nur einigermaßen intakt bleiben. Ähnliches gilt für meine Schreiberei: Wenn ich mich an den Rechner setze und etwas tippe, kommen dabei keine Erfolgsgeschichten heraus. Womöglich aber trainiere ich so die Reste meines Hirns. Und auf diese Weise kann ich vielleicht noch eine Weile ein paar vernünftige Dinge tun. Es sind die Dinge, die mir möglich sind. Ich hätte garantiert keine Schwierigkeiten, mein Rentnerdasein anders zu gestalten – nur ein schlechtes Gewissen.
Erreichbar bin ich per Zuruf auf der Straße und per Mail: flaneursalon@joebauer.de
Meine kleine Website Story
GRAMMOPHON UND MEGAPHON
Homepage-Kolumne Nr 12
Fast täglich wird mir in diesem Oktober eine Winterschifffahrt per Mail angeboten, und am liebsten würde ich sofort buchen, am liebsten auf dem Fluss ins Nirgendwo. Aber da käme ich als Touri auch nicht weit, weil man dem, was gerade passiert, nirgendwo mehr entkommen kann. Und so bleibe ich hier und gehe, wenn ich die Zeit finde, hinaus auf die Straße. „Oben ist ein schmaler Streifen Himmel“, schreibt Robert Walser 1909 in seinem Text „Friedrichstraße“, „unten der glatte, schwärzliche, gleichsam von Schicksalen polierte Boden. Die Häuser zu beiden Seiten ragen kühn, zierlich und phantastisch in die architektonische Höhe. Die Luft bebt und erschrickt von Weltleben.“
Alles im Fluss, zu Fuß. Immer noch habe ich Lust, spazieren zu gehen, in den böigen, verregneten Spätoktober hinein. Auch wenn die Luft nach Weltbeben stinkt: nach Dummheit und Bösartigkeit, die den Faschisten den von Schicksalen polierten Boden bereiten.
Am Tag, bevor ich mich zum Kolumnieren an den Schreibtisch gesetzt habe, ließ ich mir zwei Spritzen verpassen, eine gegen Corona, eine gegen Grippe, gerade so, als gäbe es immer noch genügend Gründe, kerngesund durch die Straßen zu stiefeln. Sich die Bilder der Stadt reinzuziehen, sich ihre architektonische Hässlichkeit einzuverleiben, damit man mehr Freude an den Menschen hat.
Vielleicht wäre es generell gesünder, mich endlich zurückzuziehen, in den eigenen vier Wänden zu bleiben, die nicht meine sind. Tagsüber könnte ich gute Geschichten von Robert Walser übers Spazierengehen lesen und abends im Fernsehen zuschauen, wie Eintracht Frankfurt 1:5 gegen den FC Liverpool vergeigt. Das wäre weltlebenhaltig, und da fällt mir ein, wie Peter Handke vor Jahrzehnten mal vom „Spiegel“ gefragt wurde, wann er denn endlich den „welthaltigen“ Roman schreibe. Der Schriftsteller antwortete sinngemäß, man solle sich den Song „Green River“ von Creedence Clearwater Revival anhören, der sei welthaltig: „Well, take me back down where cool water flow, y’all / Let me remember things I love, Lord“.
Ganz langsam scheine ich hier meiner Ausstiegssehnsucht, meiner Winterschifffahrt ins Nirgendwo der elenden Welt näherzukommen. Neulich habe ich, während ein Handwerker in der Wohnung war, ein 60 Seiten dünnes Büchlein des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann gelesen, eine noch ziemlich frische kulturhistorische Hommage an ein lebenswichtiges Haushaltsgerät: „Der Plattenspieler“, heißt das Buch, Untertitel: „Dinge des Lebens“. Dieses literarische Ding ist für jeden Plattenspieler-Besitzer so etwas wie eine Lustrille im Weltleben, in die er eintauchen sollte. In einem Kapitel geht es um die Beziehung von Thomas Mann zum Plattenspieler und seine Betrachtung dieser ungeheuerlichen Maschine im „Zauberberg“. „Thomas Mann“, schreibt Liessmann, „lässt keinen Zweifel daran: Das Grammophon war kein Spielzeug, kein Abspielgerät, sondern ein neuartiges Musikinstrument.“
Unsereiner ist mit einer technisch eher bescheidenen und finanziell günstigen Version dieses Instruments ausgerüstet. Ich bin kein Hifi-Freak wie der Wiener Philosoph, aber auf die Rotation des Grammophontellers will ich keinesfalls verzichten. Es schützt einen davor durchzudrehen. Eine gute Plattennadel verkörpert etwas ähnlich Märchenhaftes wie John Lennons „Lucy In The Sky With Diamonds“, und keine Sorge: Der Diamant lässt sich auch nicht irritieren, wenn du ihm anderes Zeugs unterschiebst. Irgendein Lemmy, ein Beethoven oder ein anderer Metal-Maestro stehen in jedem Regal.
Ich höre unterschiedlichste Musiken sehr gern in direkter Reihenfolge. Macht mir Spaß, verbindet Welten, und mit diesem Groove gestalte ich auch meine kleinen Shows wie den Flaneursalon und Die Nacht der Lieder. Dann allerdings alles live, wobei es mir an dieser Stelle angebracht erscheint, auch mal den Plattenspieler auf der Bühne zu ehren. Ohne den würde ich wahrscheinlich heute noch glauben, in Liverpool sei immer bloß Fußball gespielt worden.
Wer meinen Text bis hierher gelesen hat, muss denken, dass ich mit hosenscheißerischen Weltfluchtzeilen vor dem Blick aufs Weltleben und Weltbeben drücken will und deshalb sogar das Stadtbildtheater ausblende. Tatsächlich kümmere ich mich zusammen mit Gleichgesinnten immer noch regelmäßig mit praktischer Arbeit um politische Angelegenheiten. Vermutlich ist es in diesem Fall kein Übertreibung, von „Arbeit“ zu reden. Arbeit ist ja nicht immer Sklaverei. Mitunter mischt sich Anstrengung mit Freude. Politisches Handeln, etwa das Organisieren von Aktionen und Veranstaltungen, würde ohne etwas Freude gar nicht funktionieren.
Andererseits sind der Frust über die freudlosen Entwicklungen und die Ohnmacht, sich erfolgreich gegen sie zu stellen, ständige Begleiter. Es muss also gelingen, eine Balance zwischen Aktivismus und Restdasein zu finden. Sinnbildlich gesprochen braucht ein halbwegs gesundes Nebeneinander von Grammophon und Megaphon. Trennen lassen sich diese Dinger freilich nicht. Kaum hast du eine kleine Rede für eine Kundgebung verfasst, landest du in einem Buch wie Paul Lynchs Roman „Das Lied des Propheten“ oder in Paul Thomas Andersons Kinofilm „One Battle After Another“ – und steckst schon wieder mitten in den Szenarien des Faschismus. „Das Lied des Propheten“, das ich schon vor einiger Zeit gelesen habe, hat mir so zugesetzt, dass ich ein paar Mal nicht mehr weiterlesen und das Buch in die grüne Tonne werfen wollte. So etwas ist mir nie zuvor passiert. Dann aber habe ich durchgehalten und erfahren, wie realistisch Lynchs fiktive Schilderung einer faschistischen Machtübernahme in Irland ist. Trumps USA kommen immer näher.
In „One Battle After Another“ stärkt und belebt dich der harte Humor, und der Film (mit Leonardo DiCaprio, Sean Penn, Regina Hall) ist so furios inszeniert, dass er mir trotz seiner 162 Minuten nicht eine Sekunde langweilig wurde. Damit ist er das Gegenteil dessen, was der Theaterkritiker Friedrich Luft in den Zwanzigern vor hundert Jahren mal so beschrieben hat: „Die Vorstellung fing um acht an. Als ich um halb elf auf die Uhr schaute, war es erst halb neun.“
Und dann, mitten im Strudel aller bösen Vorahnungen, gibt es Tage, da wünscht du dir ein Ritual, wie es Liessmann in seinem Buch beim Auflegen von John Cages berühmtem Stück 4‘33“ beschreibt: „Der Teller beginnt sich zu drehen, der Tonarm senkt sich, es knistert ein wenig. Zu hören ist – nichts. Stille, nur unterbrochen vom Öffnen und Schließen eines ungespielten Klaviers. Stille, in der nur der eigene Atem und der Herzschlag zu vernehmen sind …“
Als Cages Stück der Stille 1952 in Woodstock uraufgeführt wurde, gab es einen Skandal, die Empörung war groß. Dabei wollte der Komponist nur zeigen, dass auch Geräusche des Alltags als Musik wahrgenommen werden können. Heute erlebt man die Geräusche des Alltags als meist lautloses, aber sichtbares Dröhnen in den asozialen Medien. Neulich, nach unserer jüngsten Kundgebung, erlebte ich auf Facebook einen Shitstorm von rechtslastigen Hetzerinnen und Hetzern, gegen den mir der Sound der nassen Herbststürme, die mir den Hut vom Kopf reißen, wie ein Liebeslied von Leonard Cohen vorkommt. Die Ekelhaftigkeit, die Entmenschlichung um einen herum sind immer deutlicher zu spüren. Und mitten im Stadtbildersturm lese ich diese Schlagzeile: „Blondes Baby bei den Schwarzen Brüllaffen geboren“. Überraschenderweise kam diese Meldung nicht von kuhdorfdeutschen Politikspießern, sondern aus dem Amazonienhaus des Stuttgarter Wilhelma-Zoos.
Das Weltleben ist lebensgefährlich. Aber auf einem Winterschiff im Fluss der Flucht ginge es mir auch nicht besser. Also schippere ich weiter wie bisher, lege eine Platte auf und höre Cohens You Want It Darker. Womöglich steckt im Dunkeln etwas Gutes.
SONG: Elias Rønnenfelt
NETZWERK GEMEINSAM GEGEN RECHTS – FÜR EINE BESSERE DEMOKRATIE
WORKSHOP
Samstag, 25. Oktober 2025, Hotel Silber Stuttgart. 10 Uhr – 12.30 Uhr.
Unsere Coaches Tanja, Andreas und Michael informieren wieder über Handlungsstrategien und geben praktische Anleitungen: „Mit Zivilcourage gegen Hass und Hetze – klar Stellung beziehen für eine solidarische Gesellschaft“. Im Zentrum steht die Frage: „Wie kann ich couragiert menschen- und demokratiefeindlichen Äußerungen entgegentreten?“
Anmeldungen sind wie immer hilfreich, aber nicht erforderlich: kontakt@netzwerk- gegen-rechts.info
Dienstag, 4. November 2025, 18 Uhr
Gewerkschaftshaus/Willi-Bleicher-Haus Stuttgart.
Vortrag & Gespräch mit Autor Marcus Bensmann von CORRECTIV.
Nach den Veröffentlichungen des gemeinwohlorientierten Medienhauses CORRECTIV kam es in Deutschland Anfang 2024 zu Massendemos gegen rechts. Das Redaktionsteam hatte über das Geheimtreffen von Rechtsextremen und ihren Unterstützern in Brandenburg mit den berüchtigten „Remigration“-Plänen berichtet. Seit zehn Jahren recherchiert das Team zur AfD und im entsprechenden Milieu. CORRECTIV-Autor Marcus Bensmann ist bei uns zu Gast und stellt Inhalte seines Buchs vor: „Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst. – Die ungeheuerlichen Pläne der AfD“ (aktualisierte Neuauflage mit dem Stand nach der Bundestagswahl 2025). Das Publikum hat Gelegenheit zu Fragen und zur Diskussion. – Anmeldungen sind wie immer hilfreich: kontakt@netzwerk- gegen-rechts.info
Eine Veranstaltung des Netzwerks Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie in Kooperation mit dem DGB Stuttgart.
Dienstag, 18. November 2025, 18 Uhr
Gewerkschaftshaus/Willi-Bleicher-Haus Stuttgart
Eine Veranstaltung in Kooperation mit ver.di BW
Welchen politischen Einfluss
haben unsere Gewerkschaften noch?
Eine Podiumsdiskussion mit Blick auf die immer größere Bedrohung demokratischer Errungenschaften durch rechtsextremer Organisationen und deren Anhängerschaft.
Mit: Sebastian Friedrich, Autor (Moderation), Maike Schollenberger, Landeschefin ver.di BW; Farina Semmler, stellv. Landesvorsitzende GEW BW; Danial Bandadi, Verein zur Bewahrung der Demokratie.
Mehr als 35 Prozent der Arbeiter:innen in der Bundesrepublik wählen AfD.
Was können wir tun gegen die Verrohung und Entmenschlichung unserer Gesellschaft?
Anmeldungen sind wie immer hilfreich: kontakt@netzwerk- gegen-rechts.info