Willkommen!
Liebe Besucher:innen, heute wieder meine Kleine Website Story – als Gruß aus der Freizeit, die man nicht mit Freiheit verwechseln sollte:
Die Homepage-Kolumne (9)
DARAUF EINEN DOORNKAAT
Es ist Mitte September, und nach vierzehn Tagen Pause wieder meine Homepage-Kolumne fällig. Wieso? Warum? Weil ich mir diese Regelmäßigkeit als Pflicht auferlegt habe, nur um mir zu beweisen, dass ich in der Lage bin, meine Pflicht zu erfüllen.
Was für ein Quatsch. Als ob ich die Pflicht hätte, in einem bestimmten Turnus meine Homepage zu füttern wie einen Papagei. Auch noch fern der Heimat. Der Duden schreibt über die Bedeutung des Wortes Pflicht: „Aufgabe, die jemandem aus ethischen, moralischen, religiösen Gründen erwächst und deren Erfüllung er sich einer inneren Notwendigkeit zufolge nicht entziehen kann oder die jemandem obliegt, die als Anforderung von außen an ihn herantritt und für ihn verbindlich ist.“
Klingt wie Wehrpflicht. Erschwerend kommt hinzu, dass ich nun, da ich meiner absurden Kolumnierpflicht nachkomme, „Urlaub mache“. Das heißt: Ich bin „in Urlaub gefahren“. Diese Art des temporären Ausstiegs würde ich ja eher „Ferien“ nennen. ChatGPT allerdings belehrt mich, dass für Erwachsene nur das Wort „Urlaub“ zutreffe, auch dann, wenn sie keiner bezahlten Arbeit nachgingen. Das Wort „Ferien“ dagegen gälte hierzulande für „Schüler, Studierende“ (womit bewiesen ist, dass KI wegen schülerhaften Genderns noch Studierbedarf hat.)
Die alles entscheidende Frage bei meiner Art der Urlaubmacherei lautet: WOVON? Vom Leben? Ich bin jetzt in Ostfriesland, bereits zum dritten Mal, und mache Urlaub von der Welt, die bei näherer Betrachtung ein Ende hat. Womöglich ist hier der Arsch der Welt, die Welt aber überall am Arsch.
Asyl genommen habe ich in der Stadt Norden. Deren Namen gibt mir die Garantie, immer zu wissen, wo ich himmelsrichtungsmäßig bin – auch wenn ich nicht in der Lage wäre, auf dem Marktplatz von Norden zu sagen, wo Süden ist oder Osten oder Westen. Wurscht. Wenn man hier jemanden fragt, wo es hingeht, lautet die Antwort: „Moin“. Ich sage dann: „Guten Tag“. Bin ein Moinmuffel.
Meine einschlägigen Studien ohne KI-Hilfe haben nach und nach ergeben, dass mein Gedanke, es gäbe irgendwo auf der Welt einen Ort, an dem die Welt aufgehört hat, eine Scheißwelt zu sein, falsch ist. Tatsächlich waren am 11. September auch bei uns im Norden die Sirenen und das Piepsen meines Taschentelefons zu hören. Es war der bundesweite Warntag. Am selben Tag teilte der Bundesverteidigungsminister dem Rest der Welt mit, die Russen hätten mit voller Absicht Drohnen in den polnischen Luftraum abgefeuert. Woher er das weiß, weiß ich nicht. Sozen wissen einiges. Und Social-Media-Generäle klären uns auf, dass die Warntag-Sirenen uns Friedenspack vermitteln, wie Menschen sich im Krieg fühlen.
In Ostfriesland geht es zuverlässig ostfriesisch zu: Manchmal regnet es, manchmal nicht. Bei Regen schätze ich meine Chancen höher ein, der Welt zu entkommen. Bei Regen macht man in Ostfriesland nichts. Nur die Dümmsten dort tippen Kolumnen. Und die Allerdümmsten welche, die Charlie Kirk, Boris Palmer und andere rechtschaffene Aktivisten ignorieren. Die Geilheit auf Arschklicks im Internet sinkt mit zunehmendem Alter. Allmählich spüre ich eine Sehnsucht nach Ereignislosigkeit. Das Bedürfnis nach NICHTS.
Selbstverständlich habe ich davon gehört, dass es ein Nichts nicht gibt. Dafür gibt es den großartigen Schriftsteller Heinz Strunk, der mit seinem neuen Kurzgeschichtenbuch „Kein Geld Kein Glück Kein Sprit“ meine Lust auf den Absturz in die Ereignislosigkeit genährt hat. In seiner Geschichte „Adolf vs. Adolf“ erzählt er von den Bergers: Das Ehepaar verkörpert „zu einhundert Prozent den Typ der Wirtschaftswunder-Spießbürger“. Herr Berger wurde 1937 Adolf getauft, und der Ich-Erzähler erinnert sich „an einen Satz, den Adolf anlasslos in die Stille sagte: Ein Flugzeug stürzt nicht zweimal an der gleichen Stelle ab.“ „Was er damit meinte“, heißt es weiter, „habe ich nicht herausfinden können.“
Die nächste Zeit werde ich damit verbringen, herauszufinden, was Adolf Berger gemeint hat. Das ist meine Pflicht. So komme ich meinem Ziel, die Welt am Ende der Welt hinter mir zu lassen, erheblich näher.
Damit nicht genug. In „Adolf vs. Adolf“ erfahren wir auch, dass der Ich-Erzähler als Kerl mit Anfang zwanzig ein Rumhänger war, ein Tagedieb, ein Eckensteher. Eines Tages fielen ihm beim Blick auf die sechzigjährigen Nachbarn „die so offenkundigen wie besorgniserregenden Parallelen zwischen Bergers und mir auf: KEINE ERLEBNISSE, KEINE EINDRÜCKE, KEINE ERFAHRUNGEN. Es stand zu befürchten, dass auch ich in diesem sonderbar halbschlafähnlichen Zustand für den Rest meines Lebens einer schweigsamen Zukunft entgegenwandeln würde.“
Diese Zeilen vor Augen, sage ich mir: Da will ich hin. Das ist es. Es lebe der tiefe Halbschlaf. Dass der junge Faulenzer (was für ein schönes Wort) der Zeit seines Stillstands nur entkommt, weil er einen Job in einer Tanzkapelle antritt, beruhigt mich. Denn auch dafür bin ich nicht geeignet. So wenig ich weiß, wo Norden und Süden ist, so wenig kann ich Techno von Marschmusik unterscheiden. Mein Taktgefühl beschränkt sich auf das vierzehntägige Tippen einer Kolumne, die nur auf meiner Homepage zu lesen und deshalb so überflüssig ist wie ein Tanzmucker in Zeiten des DJs.
Nun ließe sich mit tout Ostfriesland trefflich darüber streiten, ob ein Urlaub wenige Kilometer vor der Nordseeküste meinen Traum erfüllen kann: keine Erlebnisse, keine Eindrücke, keine Erfahrungen. Es gibt Hoffnung: Im Ostfriesischen wohne ich am Stadtrand neben einemi großen, schönen Friedhof, der mir eine gewisse Gelassenheit gibt. Verdammt viele, sage ich mir, haben es schon geschafft. Nur Mut, Alter. Und von deiner letzten Erfahrung wird keiner mehr erfahren.
Hinter dem Ferienhaus für aushäusige Urlaubende fährt hin und wieder die Eisenbahn vorbei. Da ich nur ein einziges Gleis sehen kann, aber beobachtet habe, wie die Züge regelmäßig, wenn auch nicht gleichzeitig, in beide Richtungen fahren, ist mir diese fast hautnahe Konfrontation mit der Bewegung an sich etwas unheimlich. Vielleicht hat auch die Nähe zum Friedhof damit zu tun. Oder die Tatsache, dass vorbeifahrende Züge ganz wesentlich die Kinoästhetik beeinflusst haben. Oder die Erinnerung, dass ich in einem Dorfbahnhof zur Welt gekommen bin, auch wenn ich mich daran nicht erinnern kann. Jedes Mal, wenn ich an die Tücken der Eingleisigkeit bei fahrenden Zügen in entgegengesetzte Richtung denke, beruhige ich mich mit der Erkenntnis, dass ein Flugzeug nicht zweimal an der gleichen Stelle abstürzt. Irgendwas muss dran sein an dieser Weisheit. Sonst stünde sie nicht in einem Buch von Heinz Strunk.
Auf dem Friedhof neben meinem Ferienhaus komme ich täglich zweimal an den Grabsteinen der Familie Doornkaat vorbei. Der Älteste der hier Ewigurlaubenden war ein „Geheimer Commerzienrath“ mit dem schönen Namen Jan ten Doornkaat Koolman. Fast noch schöner war einst der Werbeslogan für den weithin geschätzten Kornbrand Doornkaat: „Heiß geliebt und kalt getrunken“.
Würde meine Urlaubsgeschichte hier enden, wäre alles in Ordnung und ich am Ende der Welt mit mir und der Welt zufrieden. Am Meer gibt es Pfannkuchen mit Matjes. Und gute Luft und Sand zwischen den Zähnen. Dummerweise aber hat Heinz Strunks Buch nur 188 Seiten, und jetzt lese ich ein anderes. Es handelt von einer Vergangenheit, die der Gegenwart so nah scheint wie das Ferienhaus dem Friedhof. Ich bin mir sicher, dass wir bald ein zweites Mal an der gleichen Stelle abstürzen werden.
Und am Ende ruft die Pflicht: Schnell noch einen Doornkaat, bevor es kalt wird auf dem Friedhof.
SONG: Sunny War
KONTAKT: flaneursalon@joebauer.de
Meine Reihe Kleine Website Story:
Kolumne 8: Hotzenplotz, Virginia
Kolumne 7: Auf Steifel komm raus
Kolumne 6: Joxer geht nach Stuttgart
Kolumne 5: Rote Tage
Kolumne 4: Am Hochofen
Kolumne 3: Der Wind von Oklahoma
Kolumne 2: Gliedererfrischendes Baden im Neckar
Kolumne 1: Abschaum und Asphalt
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Hier die bevorstehenden Veranstaltungen unseres Netzwerks Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie:
Donnerstag, 2. Oktober 2025
Gewerkschaftshaus/Willi-Bleicher-Haus Stuttgart, 18 Uhr:Lesung & Gesprächmit Autor Marcus Bensmann vom Correctiv-Netzwerk.
Dank der Arbeit des journalistischen Correctiv-Netzwerks kam es in Deutschland Anfang 2024 zu Massendemos gegen rechts. Das Redaktionsteam hatte über das Geheimtreffen der AfD in Brandenburg mit den berüchtigten „Remigration“-Plänen berichtet. Correctiv-Autor Marcus Bensmann ist bei uns zu Gast und liest aus seinem Buch: „Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst. – Die ungeheuerlichen Pläne der AfD“. Aktualisierte Neuauflage mit dem Stand nach der Bundestagswahl 2025. – Anmeldungen sind wie immer hilfreich: kontakt@netzwerk- gegen-rechts.info
Samstag, 18. Oktober 2025, Stuttgarter Schlossplatz, 14 Uhr:
Kundgebung:
Gegen die Zerstörung des Sozial- und Rechtsstaats.
Verteidigt demokratische Errungenschaften!
Redebeiträge (vorläufig): Klaus Dörre (Sozialwissenschaftler), Sebastian Molter (Stuttgarts neuer Asylpfarrer – begleitet von einem/r Betroffenen der Migrationspolitik), Gratian Riter (Schorndorfer Bündnis gegen Rassismus und Rechtxextremismus), Ulrich Bausch (Aufbruch für den Frieden) sowie eine Sprecherin der CSD-Bewegung.
Moderation: Joe Bauer & Co … nähere Infos demnächst.
Dazu Musik von der Latin-Band Son Sabroso und einen Auftritt der Dancers across Borders/Salamaleque Dance Company.
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