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Willkommen!

Liebe Besucher:innen, an diesem Samstag ist der Flaneursalon im Ratze-Garten, und zuletzt, nach langer Vorverkaufsflaute, war die Nachfrage auf einmal groß. Ergebnis: ausgebucht. Eine weitere Lieder- und Geschichtenshow habe ich für dieses Jahr nicht geplant.

Nach dem Abschied von der Kontext:Wochenzeitung im vergangenen Mai schaffe ich es bisher tatsächlich, alle zwei Wochen eine Kolumne zu schreiben, ohne Auftraggeber, ohne Zwang: die kleine Website Story nur für meine Depeschenseite und deren treue Leser:innen. Dieser Kreis dürfte zwar von einer gewissen Intimität geprägt sein. Es geht aber nicht um Klicks, nur um etwas Freude an der Sache – und darum, in Übung zu bleiben. Natürlich freue ich mich, wenn meine Texte etwas Verbreitung finden … with a little help … womöglich freue ich mich wie am Spieß, wie Max Goldt zu sagen pflegt.

Die Homepage-Kolumne (7)
AUF STEIFEL KOMM RAUS

Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass überall Security-Trupps herumstehen, Männer und Frauen mit Taschenlampen, Metalldetektoren und ähnlichem Krempel am Gürtel. Diese Leute, früher „schwarze Sheriffs“ genannt, sehen manchmal bedrohlich aus und oft sehr lächerlich. Sie sind beauftragt, sich um die Sicherheit von Personen und Besitz zu kümmern. Wandelnde Warnwesten.  

Im Bürgerlichen Gesetzbuch findet sich dafür der Begriff „Besitzdiener“ und im Internet diese KI-Definition: „Ein Besitzdiener ist eine Person, die die tatsächliche Gewalt über eine Sache für einen anderen (den Besitzer) ausübt und dabei dessen Weisungen unterliegt. Der Besitzdiener hat kein eigenes Besitzrecht an der Sache, sondern handelt im Auftrag und unter der Kontrolle des Besitzers.“

Viele unter uns sind vermutlich nie über den Status des Besitzdieners hinausgekommen, und mit etwas kapitalismuskritischem Bewusstsein betrachtet, sind wir mehrheitlich Eigentumsdiener. Kein Recht an der Sache und fast überall immer unter Kontrolle des Eigentümers. 

Ein Spaziergänger wie unsereiner zieht herum in der Absicht, die Stadt zu erobern, auch mit dem Wunsch, sich öffentlichen Raum anzueignen, ohne ihn in Besitz zu nehmen. Das ist ein holpriger Weg, weil der Fußgänger bei uns im Verkehr nicht zählt. Er ist weniger wert als ein E-Scooter, und wenn er die Augen aufmacht, sieht er, wie er fast überall nicht nur von Besitz- und Eigentumsdiener:innen unterschiedlicher Waffengattungen kontrolliert wird. Auch zahlreiche Videokameras und unzählige Mobiltelefone überwachen ihn. Der Spaziergänger muss begreifen, wie von ihm Besitz ergriffen wird. Dafür braucht er nicht mal eigene, leibhaftige Erfahrungen mit den Polizeikontrollen in öffentlichen Parks, denen junge Männer beim Racial Profiling ausgesetzt sind. Oft genug schaue ich im Schlossgarten zu, wie ihre Körper in Besitz genommen werden. 

Die Dichte des Sicherheitsapparats lässt erst nach, wenn du dich in Gegenden flüchtest, in denen Besitz und Eigentum wenig vorhanden oder nicht viel wert sind. Etwa in den Prärien der Vorstadtcowboys. Bis vor einigen Jahren bin ich tatsächlich so gut wie immer in Cowboystiefeln durch die Stadt und an ihre Ränder gewandert, mit hochhackigen, täglich wechselnden Schuhen in allen Varianten, über die ich heute angesichts schlagkräftiger Tierschutzarmeen schweigen will. Wenn ich mich im Fitnessstudio oder im Mineralbad umziehen musste, trug ich mangels Stiefelknecht Stiefeletten. In meinen Augen kein lebensgefährlicher Dachschaden. 

2016 habe ich eine Kolumnensammlung mit dem Titel „In Stiefeln durch Stuttgart“ zusammengestellt. Meinem ehrenwerten Verleger unterlief beim Umgang mit der ie-Kombination ein kleines Missgeschick. Kein Ei gleicht dem anderen. Als das Buch in den Läden lag, stand groß auf dem Deckel: „In Steifeln durch Stuttgart“. Nachträglich wurden deshalb die Bücher mit einem extra angefertigten Umschlag ausgeliefert und dann in neuer, korrigierter Auflage gedruckt. Sie wurden verkauft. Auf Steifel komm raus. 

Mit guten Cowboyschuhen, die meisten aus dem Laden Boots by Boots im Gerberviertel, bin ich lange selbst bei extrem hohen Temperaturen über den Asphalt gestiefelt, und ob man mir glaubt oder nicht: Diese kleinen Kunstwerke aus Leder fühlten sich fast alle sehr bequem an, jedenfalls so lange, bis meine Lendenwirbel rebellierten. Dennoch bleibe ich dabei: In Stiefeln spazierst du bewusster als in Turnschuhen durch die Welt. 

Meine Schuhwerk-Phase fiel mir neulich ein, als ich bei 33 Grad im Schatten zu der kleinen Bude namens „Hotdogle“ in der Neckarstraße ging. Diesen noch relativ neuen Imbiss hab ich schon einmal in einer Kolumne erwähnt. Sein schwäbisierter Name zieht einem normalerweise die Stiefel aus. Da ich aber keine mehr trage, suche ich den Laden regelmäßig vorbehaltlos auf. Seine Produkte schmecken sehr amerikanisch, soweit ich das nach einigen New-York-Ausflügen noch in der Nase oder sonst wo habe. Das freundliche Personal ist international geprägt, und fast immer bestelle ich trotz Geflügel- und Rind-Angebot die Vegan-Version. Das viele Kraut- und Gurkenmaterial im Hotdog verdrängt easy den Geschmack der Wurscht. Ein guter Hotdog am Straßenrand geht mir runter wie ein guter Countrysong aus einem Transistorradio. Und mundet wesentlich besser als die amerikanische Scheiße, die uns Tag für Tag Donald Trump und sein bigotter Größenwahn-Clan servieren.

Vor dem Imbiss steht noch der Aufsteller mit dem Hinweis „Neueröffnung“, zuletzt war das Schild immer so platziert, dass ich vor dem Haus Nummer 150 den Stolperstein übersehen habe. Erst nach mehreren Besuchen habe ich ihn zufällig entdeckt: Ich musste mich bücken, als mich ein junger Mann darauf aufmerksam machte, dass mir gerade ein Zehn-Euro-Schein aus der Hosentasche gefallen war. Da erst sah ich den Stein mit der Inschrift: 

Hier wohnte Lazarus Karschinierow. Jg 1877. Deportiert 1942. Theresienstadt. Verhungert 4. 5. 1945. 

Es ist mir so gut wie unmöglich zu beschreiben, was genau ich in diesem Moment dachte oder fühlte, als ich über dem Stolperstein in der Hocke saß, mit meinem Hotdog in der Hand und dem Bild im Hirn, wie Herr Karschinierow, einst wohnhaft in diesem alten Haus in der Neckarstraße 150, ein paar Tage vor Kriegsende im KZ vor Hunger krepierte. 

In meiner Ratlosigkeit, mich zu sortieren, ging ich auf den freundlichen Jungen zu, der mir meinen Zehn-Euro-Schein gerettet hatte. Vermutlich wollte ich mich ablenken, irgendwas tun. Sorry, ich bin etwas neugierig, sage ich, nur eine Frage: Weißt du zufällig, was dieser Stein unter dem Aufsteller für eine Bedeutung hat? Klar, antwortet er, ohne nachzudenken, das ist ein Gedenkstein für ermordete Juden. Ja, sage ich, man nennt ihn Stolperstein. Genau, Stolperstein, sagt er. 

Er erzählt mir, dass er türkische Eltern hat und in Stuttgart, in Ostheim, geboren wurde. Dort ging er in die Grund- und Werkrealschule Ostheim in der Landhausstraße, eine bekannte, eine außergewöhnliche Institution, die seit langem von überdurchschnittlich vielen internationalen Schülerinnen und Schülern besucht wird. Dort hat der Junge gelernt, was ein Stolperstein ist. Das Haus, aus dem die Nazis den Mann geholt haben, sage ich, steht noch da wie früher. Alles nicht so lange her. Ja, sagt er, aber die meisten in meinem Alter kennen die Gedenksteine nicht. 

Auf dem Gelände der Ostheim-Schule hat der Fotograf Lutz Schelhorn vor Jahren Reportagebilder gemacht. Eines davon hat mir so gut gefallen, dass es bis heute in einer großen Fassung als dominierendes Bild in meinem Wohnzimmer hängt. Man sieht darauf sehr nahe das Seitenprofil eines Mädchens mit buntem Kopftuch und einem Strohhalm im Mund, dicht daneben den von einem Hütchen mit Leopardenfellmuster verdeckten Kopf eines anderen Mädchens.

Heute fühle ich mich als Besitzdiener dieser Fotografie. Sie ist das Bild der Stadt. Eines, das den Rechtsextremen und ihrer menschenverachtenden Gefolgschaft ein Dorn im Auge ist. Dieses Bild ist definitiv mein Eigentum, doch weiß ich nicht, wie lange wir noch die Kontrolle über ein Leben besitzen, in dem es möglich ist, solche Szenen wie auf Lutz Schelhorns Foto in einer halbwegs herrschenden Selbstverständlichkeit wahrzunehmen. Demokratiefeinde bekämpfen die Gemeinsamkeit des Unterschiedlichen, das „Nie wieder“ ist zur Phrase verkommen, während wir über Steine stolpern, und womöglich wäre es richtig, schon jetzt an Security zu denken. 

PS: Sehr merkwürdig. Als ich am sehr heißen Donnerstag dieser Woche die Kolumne tippte und gerade die Beschreibung von Lutz Schelhorns Bild beendet hatte, klingelte mein Taschentelefon. Es meldete sich Lutz, von dem ich seit Monaten nichts gehört hatte. Demnächst werde ich ihn besuchen. 

SONG: Postman

Alle auf einen Blick:

Kolumne 6: Joxer geht nach Stuttgart
Kolumne 5: Rote Tage
Kolumne 4: Am Hochofen
Kolumne 3: Der Wind von Oklahoma
Kolumne 2: Gliedererfrischendes Baden im Neckar
Kolumne 1: Abschaum und Asphalt

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