Willkommen!
Liebe Besucher:innen, eine ganze Weile schon war hier nichts Neues zu lesen. Skandal. Womöglich hatte ich einen konditionellen Hänger oder keine Lust, meine Depeschenseite aufzufrischen. Dachte mir: Nach dem schönen und aufwändigen Flaneursalon am Fluss im Neckarhafen habe ich eine kleine Pause verdient. Jetzt ist hier zum Glück wieder meine kleine Website Story zu lesen. Wie angekündigt, habe ich vor, jeden zweiten Samstag eine neue anzubieten, was ohne Auftraggeber und Bezahlung aus Gründen der Selbstdisziplin gar nicht so leicht ist. Freuen würde mich, wenn sich diese Sache herumspräche und etwas Resonanz hätte.
Unterdessen ist unser kleines Team namens Netzwerk Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie dabei, weitere Veranstaltungen zu planen. Das wird immer schwieriger, weil uns die aktuellen Ereignisse mit all ihren infamen politischen Drahtziehern oft ratlos machen. Sicher ist, dass wir für Samstag, 18. Oktober, eine Kundgebung auf dem Schlossplatz organisieren werden – mit Blick auf die Landtagswahlen im März 2026. Unser Geschäft ist es, die demokratiefeindlichen Verhältnisse und Entwicklungen vor der eigenen Haustür ins Visier zu nehmen.
Eine weitere Saal-Veranstaltung ist für November geplant – Thema: Wie können Gewerkschaften noch zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften beitragen? Eine wichtige Frage. Etwa 25 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder gehören heute zum rechten bzw. rechtsextremen Spektrum. Und die Organisationen der arbeitenden Menschen sind inzwischen zu wenig im Bewusstsein der Menschen. Als gäbe es keine Klassen und Lohnabhängigen mehr.
Der nächste Flaneursalon findet am Samstag, 16. August, im Wirtshaus-Garten der Ratze statt – Spezialgast ist der großartige Dichter Thomas Gsella, der Meister der lustigen, radikalen Lyrik. Nebenbei: Eine Karte kostet 25 Euro – so viel zahlt man in der Regel für Solo-Comedians an üblichen Spielstätten. Bei uns gehen fünf professionelle Musiker:innen, ein erstklassiger Satiriker und unsereiner auf die Bühne. Und das Equipment muss eigens angekarrt, betreut und bezahlt werden. Unser Mix aus Live-Musik und Lesung ist eine ziemlich eigenwillige Nummer. Reservierungen: ratzestr@gmail.com
Jetzt aber erst mal was zu lesen. (Erreichen kann man mich per Mail: flaneursalon@joebauer.de)
Die Homepage-Kolumne (5)
ROTE TAGE
Meine Schreiberei wird vermutlich nicht besser, wenn ich vorher meinen Rechner reinige. Dennoch habe ich diesmal die Kiste vor dem Kolumnieren geputzt, weil ich fürchtete, Bildschirmschlieren und bekleckerte Tasten könnten mir die Wirklichkeit noch dreckiger erscheinen lassen, als sie ist.
In der Altstadt begegnet mir Herr Heinrich Huth, ein Barmann und guter Bekannter, er hat einen kleinen Hund an der Leine. Ein Welpe aus der alten japanischen Rasse Shiba Intu, erzählt er mir, er habe ihn noch nicht lange. Sein vorheriger Hund ist tot. Gestorben in der Tierklinik, in der er nach einem Polizeieinsatz und einer Notoperation nicht mehr aus der Narkose erwachte. Heinrichs Wunden an seinen Armen sind inzwischen vernarbt. Beide wurden vom Kampfhund eines Altstadt-Wirts angegriffen. Gegenwehr, Schläge auf die Schnauze erfolglos. Als sich das Unglück im Viertel herumgesprochen hatte, besuchten nicht wenige Leute Heinrich eigens in seiner kleinen Bar, um ihm zu kondolieren.
Gelegentlich kaufe ich mir am Kiosk ein Schundheft, meistens aus der Westernserie „Winchester – Männer härter als der Tod“. Entspannende Lektüre. Amerikanische Banditen in Billigromanen sind im Vergleich zu realen Erscheinungen wie Donald Trump, Pete Hegseth und Julia Klöckner liebenswerte Typen, von den Helden zu schweigen.
Zuletzt allerdings fiel mir am Kioskregal das Produkt eines anderen Genres ins Auge: ein Heftchen aus der Reihe „Erlebte Geschichte. Freikorps. Freiwillige Wehrverbände 1918 – 23“. Titel: Rote Tage in Berlin. Es geht um „Das ,Regiment Reichstag’ im Kampf gegen Spartakus 1919“. Ich kaufte das Ding in einer gewissen Erregung und begann auf der nächsten Bank zu lesen. Nach etlichen stinklangweiligen Seiten fielen mir Sätze auf, die den anonymen Rote-Tage-Autor in den Verdacht eines friedensverwahrlosten Pazifisten rücken: „Bürgerkrieg, Deutsche schossen auf Deutsche. Verrückt. Wenn Deutsche auf Franzosen schossen ohne persönlichen Grund, war das weniger verrückt?“
Dann stieß ich auf die Stelle, in der ein Kämpfer der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) mit dem Genossen Noske von der MSPD (Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands) verhandelt. Aus der Perspektive des USPD-Mannes heißt es über den Gesprächspartner: „Es hatte keinen Zweck, weiter mit diesem Mann zu sprechen, der ihm nicht Sozialist in seinem Herzen, sondern ein Spießer zu sein schien, ein Bourgeois, den es nach einer Bürgerkrone gelüstet, nach einem Gehrock und einem Ministersessel. Ihm fehlte offenbar der Erlöserwillen. Er führte nicht die Masse, sondern ließ sich von ihr in die Höhe tragen.“
Gustav Noske war der Mann, der die Niederschlagung des Spartakusaufstands 1919/1920 kommandierte. In einer Fußnote meines Heftchens wird er so eingeführt: „Hieß für seine Gegner ‚der Bluthund’ …“
Womöglich hilft Schmuddelliteratur, wenn du unsere Kampfhundwelt verstehen willst. In meiner Nachbarschaft wirbt das führende deutsche Sprachorgan „Bild“ großformatig als Konsumberaterin: „Kauf kein Kack“. Die Partei Die Linke fordert „Kein Fußbreit dem Faschismus“, und ein einheimischer Plakatdichter gibt zum Revolutionären 1. Mai die Parole aus: „I dont’t kehr! Räum dein Scheißdreck selber auf!“ Kurzum: Den Akkusativ hat man dummen Hunden zum Fraß vorgeworfen. Der vierte Fall im Deutschen ist Abfall. Darauf kannst du ein Eid schwören.
Unterdessen blühen fulminante Wortspiele zur Rettung unserer Welt. In Stuttgart verbreitet die Stadt Hinweise auf „Futurepoints“ und verschafft uns mit ihrer Reklamefritzenkampagne den ultimativen Klimax: „Jetzt Klimachen“. Auf einer Staffel lese ich die amtliche Sprayer-Botschaft: „Jetzt Klimachen statt schlappmachen“.
Statt solcher Waschlappenlyrik empfehle ich heute als eine der besten Stätten Stuttgarter Kultur- und Bildungspflege den Kiosk im Königsbau, kurz vorm Kunstmuseum. An der Fassade steht: „Souvenir Buch Roller“. Roller heißt die ehrenwerte Familie, die das ungewöhnliche Geschäft führt. Immer wenn ich dort vorbeikomme, finde ich im Schnäppchenständer vor dem Laden gute Literatur. Neulich habe ich für drei Euro (95 Cent weniger als für „Rote Tage“) ein neuwertiges Buch der US-Schriftstellerin Paula Fox (1923 bis 2017) ergattert: Die Zigarette und andere Stories, erschienen 2011. Das Vorwort beginnt mit dem Satz: „Mein Vater, Paul Harvey Fox, war Schriftsteller und Trinker.“ Erinnert mich an früher: Wenn man nur lange genug genügend trinken würde, dachte ich, wäre man ein Schriftsteller.
Ich ging nach Hause, packte Paula Fox in einen Turnbeutel und stiefelte über den Wulle-Steg hinunter in den Schlossgarten. Als ich mich auf eine Bank setzte, stellte ich fest, dass ich mein Taschentelefon nicht bei mir hatte. Ein Schock wie für einen Kettenraucher, wenn er merkt, dass er keine Zigarette mehr hat. Zur Umkehr war es zu heiß, also beschloss ich, auf das Handy zu scheißen. Ersatzweise las ich sechs Geschichten von Paula Fox sehr süchtig hintereinander. Meinen Bleistift hatte ich nicht vergessen, und so strich ich diese Zeilen an: „Selbst in kleinen Dingen fehlt uns oft die Geduld, uns in Erstaunen setzen zu lassen. Wir beeilen uns, Ereignisse, Anomalien, Überraschungen aller Art zu definieren, bevor wir auch nur eine Ahnung haben, wie wir sie empfinden und wahrnehmen. Wir erledigen ganze Kontinente menschlicher Unergründlichkeiten mit abgeschmackten Klischees, und manchmal reduzieren wir einen undurchschaubaren Menschen, der direkt vor uns steht, auf einen Haufen psychologischer Attitüden.“ Auf diese Art posten und kommentieren viele Tag für Tag auf Social Media.
Ich spazierte weiter. Im Park waren nur junge Menschen zu sehen. Einige spielten Spikeball. Zwei Teams mit zwei Spieler/innen stehen um ein rundes Netz im Gras und machen so was Ähnliches wie Beachball parterre. Für mich ein neues Spiel, weil ich selbst nicht mehr neu bin. Dann sah ich ein junges, würde sagen: pubertierendes Pärchen an einem sehr kleinen Brett mit sehr kleinen Figuren. Aus Angst, falschen Verdacht zu erwecken, traute ich mich erst nicht zu fragen, tat es aber doch: Ist das Mensch ärgere dich nicht? Ja, sagte das Mädchen und kicherte. Die Welt war in Ordnung. Und nirgendwo ein Hund.
Ich ging nach Hause und sah nervös nach, ob mein Taschentelefon noch da war. Ja. Kein Schwein hatte eine Nachricht hinterlassen. In den Online-Nachrichten war zu lesen, der deutsche Verteidigungsminister Pistorius habe mit seinem US-amerikanischen Kollegen Hegseth ein „freundschaftliches Gespräch“ über einen zwei Milliarden schweren Waffen-Deal zugunsten der Ukraine geführt. Hegseth, der ehemalige Moderator des rechten Krawallsenders Fox News, hat laut „Tagesschau“ seine Begeisterung für Trump mal so erklärt: „Trump ist ein Präsident, der gesagt hat, er wolle Amerika wieder groß machen – gegen die linken Kräfte.“ Es ehrt den Sozialdemokraten Pistorius, wenn er in guter sozialdemokratischer Tradition passende Freundschaften pflegt.
Nach der Handy-Lektüre ging ich noch einmal auf die Straße, wie immer mit Hut. Vor einiger Zeit habe ich gelesen, dass kurz vor der Französischen Revolution und bis Mitte des 19. Jahrhunderts äußerst heftig über das Ritual gestritten wurde, auf der Straße zur Begrüßung den Hut zu ziehen. In deutschen Städten hatten sich sogar zahlreiche Vereine gegen unterwürfiges Hutziehen gegründet. In Wahrheit, erfuhr ich, handelte es sich beim Anti-Hutzieher-Aufstand um aufgeblasene Scheingefechte gegen die Obrigkeit. Wichtiger erschiene mir heute, schlagkräftige Vereine gegen das politische Arschkriechen zu gründen. Flankierend würde ich meinen Hut davor ziehen, bevor ich wieder meinen beschissenen Rechner putze.