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Zunächst meine neue KOLUMNE: Gruß vom Mauerspecht
Liebe Besucher:innen, im Oktober vergangenen Jahres war ich einige Tage in Brandenburg, wohnte in der Nähe von Berlin, wo ich kurz zu tun hatte. Dort schrieb ich meine übliche Kolumne „Auf der Straße“ für die Kontext:Wochenzeitung: „22 Wunder“. Hier ein Auszug aus diesem Text – und im Anschluss eine Nachricht, die ich nicht für mich behalten möchte:
ANN DORZBACK,
EINE JÜDISCHE GESCHICHTE
Wäre ich nicht vier Wochen älter als Angela Merkel, sondern noch frisch und mobil, säße ich in diesen Tagen vermutlich am Ohio River in Louisville, Kentucky. Und nicht an der Havel in Werder, Brandenburg, wenige Kilometer vor Potsdam.
Brandenburg ist Wohlfühlland. Obstweinanbau und Sozenbestand. Ich gehe herum, setze mich auf eine Bank am Fluss und schaue in die Verlorenheit. Am Templiner See, ein paar Kilometer weiter, sehe ich einen schönen Holzsteg, der aufs Wasser hinausführt. An seinem Ende wurde eine Sitzbank hingestellt. Freier Blick auf den See. Kaum erwähnenswert, dass sich der Zugang zum See auf Privatbesitz befindet: Betreten verboten. Es ist Zeit, für die Freiheit zu kämpfen, jetzt da „500 Jahre Bauernkrieg“ gefeiert werden.
Am Templiner See war ich, um einen Blick auf Albert Einsteins Sommerhaus am Rande der Gemeinde Caputh zu werfen. Der Architekt Konrad Wachsmann hat dafür einst die „ortsfeste Fachwerkbauweise“ entwickelt. Einstein und seine Frau konnten sich hier nur zwischen 1930 und 1932 erholen. 1933 verließen sie Nazi-Deutschland und gingen in die USA. Mit der Hilfe Einsteins gelang es 1941 auch Wachsmann, in die USA zu emigrieren.
An dieser Stelle bin ich mal wieder in Amerika. Und sollte langsam mal erzählen, warum ich lieber nach Louisville, Kentucky, gefahren wäre. Wenige Tage vor meinem Brandenburg-Trip erhielt ich eine Mail von einer Frau aus Übersee: Sie habe meinen Artikel über die „Bronner-Seife“ gelesen und würde gern mit mir darüber sprechen. „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in angemessener Zeit mit mir in Verbindung setzen könnten, da ich jetzt 103 Jahre alt bin.“ Das saß.
Die Frau heißt Ann Dorzback, 1921 wurde sie als Anneliese Wallersteiner in Ulm geboren, wo auch Einstein zur Welt kam. Meinen Artikel, den sie von einem deutschen Bekannten aus Washington erhielt, war im Januar 2021 unter dem Titel „Amerika in einer Flasche“ als Kontext-Kolumne erschienen. Damals berichtete ich von einem Ausflug nach Laupheim bei Ulm, einst Württembergs größte jüdische Gemeinde. Der Seifensieder Emil Heilbronner hat dort 1858 eine Manufaktur gegründet. Sein Nachfahre Emanuel Heilbronner floh 1929 vor den Nazis in die USA und tilgte für immer das „Heil“ aus seinem Namen. Er gründete das Unternehmen Dr. Bronner’s Magic Soaps, war ein Pionier von Bio- und Fairtrade-Produkten. Die Firma gilt heute als größte Naturseifen-Herstellerin in den USA. Ihre Flüssigseife mit Pfefferminz, einst für Hippies das Salz der Erde, ist eine amerikanische Legende.
Ich rufe Ann Dorzback an, in Louisville, Kentucky. Sie spricht klar und deutlich mit Ulmer Dialekt; wenn sie ein paar englische Worte fallenlässt, klingt sie wie eine waschechte Amerikanerin. Ihr Sohn Robert, 70, genannt Bob, ist bei ihr.
1939 gelingt Anneliese mit ihrer Familie die Flucht aus Deutschland. Nach langem Warten voller Ungewissheiten können sie mit einem US-Visum nach England ausreisen. Doch erst sieben Monaten später dürfen sie weiter in die USA. Hitlers Wehrmacht hat inzwischen Polen überfallen. In New York lernt Ann, wie sie sich nun nennt, ihren Mann Richard Dorzback kennen. Er stammt aus Göppingen. Sie ziehen nach Louisville.
Aufmerksam auf meinen Laupheim-Ausflug wurde sie, weil ich vom Haus Judenberg 2 berichtete, wo die Seifenmanufaktur aufgebaut wurde. Ihre Mutter Elsa Bergmann sei am Judenberg geboren, sagt sie. Aus Laupheim stammen bekannte jüdische Persönlichkeiten, darunter der Hollywood-Pionier Carl Laemmle – und die legendäre Hochspringerin Gretel Bergmann. Die erfolgreiche Sportlerin wurde von den Nazis übelst schikaniert. Nach vielen Demütigungen durfte sie bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin nicht starten – und emigrierte in die USA. Die Leichtathletin war Anns Cousine, Tochter der Schwester von Anns Mutter. In den USA besuchten sich Gretel und Ann regelmäßig. 2017 starb Gretel mit 103 Jahren in New York.
Fast eine Stunde lang plaudern wir am Telefon. Ann erzählt mir, wie sie sich in Louisville mit ihrer Schwester Lotte schon früh selbstständig machte. Für die zwei Frauen ein Abenteuer. In Ulm hatte die Familie Wallersteiner ein erfolgreiches Textilunternehmen geführt, und schon bald hängten die beiden Töchter in den USA ein eigenes Firmenschild an die Tür: „Dressmaking & Alteration“. Sie schneiderten und änderten Kleider.
„Wissen Sie, was bei uns in Amerika gerade los ist?“, fragt sie mich. Ja, sage ich, was halten Sie denn von Donald Trump? „O weh“, sagt sie, „darüber will i lieber net schwätza.“
Ann Dorzback wurde in ihrer Heimatstadt Ulm in den vergangenen Jahren gewürdigt: eine überaus wache Person der Zeitgeschichte, eine der letzten Zeitzeuginnen des Nazi-Terrors. Die Ulmer Filmemacherin Sibylle Tiedemann hat 2022 eine Dokumentation gedreht: „Man kann immer an einem Fluss sitzen – Ann Dorzback: Ein jüdisches Leben“.
In Ulm und Umgebung erfährt man heute, wie überall viel zu spät, vergleichsweise viel über jüdisches Leben und Sterben in Deutschland. Nahe der 2012 fertiggestellten Synagoge wurde erst im vergangenen Juli der Erinnerungsort „Die Einsteins. Museum einer Ulmer Familie“ eröffnet. Diese Aufarbeitung unglaublicher Fluchtgeschichten kann ich nur empfehlen.
Ann Dorzback arbeitet zurzeit mit Sohn Bob an einem Buch unter dem Titel „Die 22 Wunder der Emigration“. So viele „Miracles“, sagt sie, seien nötig gewesen, um Deutschland zu verlassen und in die USA zu gelangen. Am Ende unseres Gesprächs bekomme ich den Auftrag, ihr Fotos vom heutigen Haus auf dem Grundstück der einstigen Seifenfabrik zu schicken. Das Unternehmen Dr. Bronner’s hat dort inzwischen ein kleines Museum eingerichtet. Ich werde noch einmal nach Laupheim fahren, wenn ich Brandenburg hinter mir habe. Man kann nicht immer am selben Fluss sitzen.
Am Dienstag, 18. März 2025, habe ich diese Mail erhalten:
Liebe Freunde,
Wir möchten euch mitteilen, dass unsere Mutter, Ann Dorzback, am 6. März 2025 einen leichten Schlaganfall erlitten hat. Ihr Gesundheitszustand hat sich seitdem verschlechtert. Sie ist sehr gebrechlich und isst und trinkt nur noch minimal. Sie erkennt uns, singt deutsche Lieder, rezitiert deutsche Gedichte und träumt davon, mit ihren Eltern und ihrer Schwester Lotte in Ulm und Laupheim spazieren zu gehen. Der Abschied rückt näher, und wir melden uns wieder, sobald wir weitere Informationen haben, darunter einen Link zur Live-Übertragung der Trauerfeier in Louisville, Kentucky.
Erfreulicherweise hat unsere Mutter ihr Manuskript „Die 22 Wunder der Auswanderung“ eine Woche vor ihrem Schlaganfall fertiggestellt und hält nun den Autorenentwurf in Händen. Das Buch beschreibt die Wunder, die der Familie Wallersteiner die Auswanderung von Deutschland in die USA ermöglichten. Darüber hinaus hat sie etwa 70 Geschichten über ihre Kindheit entworfen, die sie später fertigstellen wird.
Falls Sie in der Zwischenzeit ein paar Lieblingsfotos von sich mit unserer Mutter haben, würden wir uns freuen, diese im JPEG-Format (das größte Format, das Sie senden können) zu erhalten, damit wir sie in eine geplante Montage integrieren können. Bitte senden Sie uns Ihre Fotos und Erinnerungen an diese E-Mail-Adresse: anndorzback@gmail.com.
Da wir rund um die Uhr für Sie da sind und die nächsten Schritte planen, können wir derzeit keine Anrufe entgegennehmen oder E-Mails beantworten. Wir wissen, dass Sie in Gedanken bei uns sind, und Ihre Unterstützung tröstet uns
Wir sind so glücklich, dass Mama so lange bei uns war – 103 Jahre und 269 Tage (Stand: 17. März) – sie hat die Tage bis zu ihrem 104. Geburtstag gezählt! Jeder von Ihnen hat eine besondere Beziehung zu unserer Mutter, und wir sind so dankbar, dass Sie das Leben des anderen so bereichert haben – sie hat Sie alle sehr geschätzt und geliebt.
Mit lieben Grüßen
Irene, Bob, Maggie, and Elizabeth