Liebe Freundinnen und Freunde des Flaneursalons,
wenn das Jahr zu Ende geht, heißt das leider nicht, dass auch andere Dinge ein Ende haben, die dringend eins haben müssten. An Silvester kann unsinnigerweise noch so viel gen Himmel geballert werden: Unsere Feinde sind in aller Regel keine Dämonen oder Gespenster, die abgeschossen werden müssen, sondern Menschen, die aus Gründen der Macht und des Profits Krisen, Katastrophen & Kriege herbeiführen.
An dieser Stelle aber wünsche ich der Leserin/dem Leser dieser Depeschenseite erst mal eine gute neue Saison – mit dem Dank für das Interesse.
(Eine kleine Geschichte von 2016 findet sich unten auf dieser Seite – und meine aktuelle Kontext-Kolumne steht hier: NEUE DEUTSCHE WELLE.)
Am Jahresende neigt man dazu, irgendwelche Bilanzen zu erstellen, die allerdings nichts wert sind, wenn keine Schlüsse daraus gezogen werden. Schlüsse? Schüsse? Ist ja schon ein seltsamer Brauch, etwas Neues zu begrüßen, indem man es unter Feuer nimmt..
Im kommenden Jahr werde ich 70, das ist keine dämonenhafte Zahl, hat aber für mich mehr Bedeutung als die 50 oder 60. Die 70 zeigt deutlich in Richtung 80, und die Acht an sich ist ja nicht nur deshalb eine bedrohliche Ziffer, weil sie für die Nazis den achten Buchstaben im Alphabet symbolisiert: H wie Hitler. 88 heißt bei denen “Heil Hitler”, und so viel 88 wie zurzeit war seit 1945 nicht. 80 riecht zudem schon ziemlich nach Finale, und das Altern ist ja durchaus vergleichbar mit einer tödlichen Krankheit, wenngleich nicht immer verbunden mit den gleichen Leiden und Schmerzen.
Sich mit seiner finalen Lebensstrecke zu beschäftigen, heißt nicht, in Untergangsstimmung zu versinken. Mit etwas Glück, habe ich in Richard Fords Roman “Valentinstag” gelesen, ist der Tod wie eine Glühbirne, wenn sie erlischt. Bevor neulich eine meiner Glühbirnen an der Decke erlosch, flackerte sie noch ein paar Mal. Dann war Feierabend. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie viel Zeit die finale Lebensstrecke noch bereithält. Und wie es mit dem Flackern aussieht. Im Moment fühle ich mich ganz intakt, was bekanntlich nichts zu sagen hat.
Als ich zu Hause die Leiter aufstellte, um die Birne auszuwechseln, dachte ich: Jetzt bricht sich der Bauer gleich das Genick, weil seine Glühbirne erloschen ist. In Yves Bossarts kleinem Buch “Trotzdem lachen. Eine kurze Philosophie des Humors” wird im Kapitel “Sterben” der Philosoph Simon Critchley zitiert: “Humor besteht darin, dass man über sich selbst lacht, dass man sich selbst lächerlich findet, und ein solcher Humor ist nicht depressiv, sondern gibt uns im Gegenteil ein Gefühl der Emanzipation, der Tröstung und der kindlichen Erhebung.”
Und jetzt ziehe ich noch ein bisschen Bilanz: Vier Flaneursalons gab es 2023, im Jahr des 25. Jubiläums meiner Lieder- und Geschichtenshow. Einer fand im Bix Jazzclub statt, in den Räumen, wo alles anfing. Zwei gab es im Garten der Gaststätte Ratze hoch über der Stadt, am Ende einen im Theaterhaus. Insgesamt kamen knapp 1000 Besucher:innen zu diesen Veranstaltungen. Damit kann ich zufrieden sein.
Begonnen hat das Jahr im Januar mit einem nicht alltäglichen Format. Anlässlich der DFB-Reihe “Nie wieder! – Erinnerungstag im deutschen Fußball“ und deren Jahresthema „Haltung zeigen und handeln – Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus” präsentierten die Autorin und Historikerin Irma Schaber und unsereiner zusammen mit dem Fanprojekt der Stuttgarter Kickers in der Vereinsgaststätte der Sportfreunde Stuttgart auf der Waldau einen Abend über die Kriegsfotografin Gerda Taro (Stefan Hiss spielte und sang dazu passende Lieder). Die jüdische Antifaschistin, 1910 in Stuttgart geboren, kam 1937 im Spanischen Bürgerkrieg ums Leben. Gerda Taro hat einst die Spiele der Kickers besucht. Die Resonanz auf unsere Veranstaltung war sehr gut.
Die Zusammenarbeit mit Fußball-Fanprojekten setzt sich inzwischen fort im sog. Netzwerk gegen rechts, das ich im Sommer mit Freunden gestartet habe. Im Oktober fand unsere erste Kundgebung statt: “Gemeinsam gegen rechts. Für eine bessere Demokratie”. Nächste Veranstaltung: 17. Januar. Siehe: www.netzwerk-gegen-rechts.info
Alles, was ich als Rentner treibe, hat miteinander zu tun. Ich denke nicht, dass es sich um Aktionitis handelt. Mir macht eine alte Frage ein schlechtes Gewissen: Warum habt ihr nichts getan? Auch ohne die Organisiererei hätte ich keine Langeweile. Kann mich ganz gut selbst beschäftigen. Und zur Not was aufschreiben. Nebenbei: Beim Veranstalten erlebt man dankenswerterweise aufbauende Dinge: etwa die regelmäßige künstlerische Unterstützung durch die Staatsoper Stuttgart – bei Shows wie bei politischen Aktionen.
Mitte März feierten wir im Bix Jazzclub Drei Jahre Künstler:innensoforthilfe Stuttgart – ein Abend mit Musiker:innen aus Pop, Jazz und Klassik. Unsere Aktion zur Unterstützung der Kulturarbeit, kurz vor dem ersten Corona-Lockdown 2020 gestartet, ist mittlerweile so gut wie beendet. 1,6 Mio Euro wurden gesammelt und verteilt.
Aufgeatmet habe ich, als im Dezember die beiden Abende in der Reihe Die Nacht der Lieder im Theaterhaus so gut wie ausverkauft waren. Es war nicht einfach, diese Benefiz-Show mit privaten Spenden und reichlich privater Öffentlichkeitsarbeit über die Pandemie zu retten – was einigermaßen absurd erscheinen muss, da diese Veranstaltung von den Stuttgarter Nachrichten und deren Verein Aktion Weihnachten präsentiert wird. Und selbstverständlich gibt es Besucher:innen, die mit den kontroversen musikalischen Beiträgen und politischen Botschaften im Sinne einer internationalen Kultur ihre deutschen Probleme haben. Mundart- und Spaßmacher-Abende haben es leichter in einer Zeit, da sich vor allem diejenigen für “das Volk” halten, die Minderheiten verachten. Der Vorverkauf für Die Nacht der Lieder 2024 läuft bereits, viele gute Plätze wurden schon gebucht. Eric Gauthier wird nach seinen Corona-bedingten Terminproblemen wieder moderieren. Infos und Karten gibt es hier: THEATERHAUS
Und der Flaneursalon? Wird sich künftig auf eher intime Treffen konzentrieren. Am Dienstag, 20. Februar, sind wir wieder mal im schönen Wirtshaus Schlesinger: die Sängerin Barbora Soares (mit Michael Strobel an der Gitarre), Stefan Hiss und Toba Borke (mit Julian Feuchter am Schlagzeug). Ich mach auch mit. Karten gibt es AB 8. JANUAR – nur am Schlesinger-Tresen.
Und hier die kleine Kolumne vom Dezember 2016:
DIE NACHTIGALL
Wir sind jetzt „zwischen den Jahren“, wobei diese Beschreibung blanker Unsinn ist. Kein Mensch kann zwischen die Jahre geraten wie ein Korn zwischen zwei Mühlsteine oder ein Stück Hackpampe zwischen zwei Hamburger-Deckel. Wenn das Jahr zu Ende geht, böllern die Menschen wie verrückt, und dann fängt ein neues an, was viele nicht mehr mitkriegen, weil sie zu viel geballert haben.
In Wahrheit gibt es keine Sekunde Pause zwischen altem und neuem Jahr – auch wenn man die Tage von Weihnachten bis Silvester noch so hartnäckig mit der Redewendung „Zwischen den Jahren“ adelt, um ein Urlaubsargument zu finden oder eine Besinnungsheuchelei in die Welt zu setzen.
Diese Erkenntnis ändert nichts daran, dass ich kurz vor diesen Faulenzertagen in der Stille der Stadt herumgehe.
Am ersten Weihnachtstag bewege ich mich wie ein Jogger – und immer der Nase nach, ohne Ziel. Morgens kurz nach acht bin ich im Westen aufgebrochen. Durch den verlassenen Schwabtunnel, diesen vergifteten Autoschlund, trabe ich nach Heslach und später zurück. Gut 70 Minuten bin ich im Laufschritt unterwegs und begegne kaum mehr als einem halben Dutzend Autos. Von den üblichen Giftgasangriffen im Kessel halbwegs verschont, überquere ich irgendwann zu meiner Überraschung den Nesenbach in einer abenteuerlichen, fast wild anmutenden Umgebung. Ich dringe bis zum Reich der Gartenfreunde Heslach vor – und salutiere gehorsamst angesichts der Deutschlandfahnen. Die obligatorischen Flaggen der Kleingärtner wollen uns vermutlich erzählen, dass deutsche Erde mit deutschem Regen begossen wird von deutschen Wolken, die der deutsche Wind von Afrika in deutsches Land geweht hat.
Heslach, richtig ausgesprochen „Häslach“, ist einer unserer aufregendsten Bezirke. Dank meines schlechten Orientierungssinns staune ich immer wieder über Gegenden, als sähe ich sie zum ersten Mal. Auch diesmal geht mir bei ihrem Anblick das Herz auf, was keineswegs von der strapazierten Pumpe eines alternden Herumläufers herrührt. Seit jeher bewundere ich die Backsteinhäuser in der Burgstallstraße, im Böhmisreuteweg oder in der Hahnstraße, von der man nicht einmal weiß, welcher Vogel hinter ihrem Namen steckt.
Joggen ist für den Stadtspaziergänger nicht so ergiebig wie der aufrechte Müßiggang, weil ich unterwegs keine Beobachtungen in mein Notizbuch kritzeln kann und hinterher nur noch selten weiß, wie ich in Straßen zurückfinden soll, deren Namen ich vergessen habe. Geblieben ist mir von meiner Tour vor allem die Szene vor einer Kirche: Eine junge Frau mit zwei Kindern hat mir, dem schwitzenden Trottel mit seiner alten Kapuzenjacke und seiner Wollmütze mit der Aufschrift „Ramones“, ohne erkennbaren Zynismus „Fröhliche Weihnachten“ zugerufen. Das war in Südheim im Nachtigallenweg – wo sonst könnte man am Weihnachtsmorgen eine so betörende Stimme vernehmen?
Am zweiten Weihnachtstag dann der Katzensprung per S-Bahn nach Vaihingen. Vor dem Bahnhof die Vollmoellerstraße, benannt nach der Familie aus der einstigen Vaihinger Trikotagenfabrik, die bis 1971 auf dem Gelände des heutigen Hotels Pullman stand. Darüber habe ich in einer meiner Kolumnen berichtet, vorwiegend über den 1878 in Stuttgart geborenen Sohn Karl Gustav Vollmoeller, das vergessene Genie. Er war Dichter, Dramatiker, Drehbuchautor („Der Blaue Engel“), Weltbürger, Kulturmanager, Diplomat, Lebemann, Autorennfahrer. Und der einzige der sozial engagierten Fabrikantenfamilie Vollmöller, der seinen Nachnamen mit „oe“ schrieb, aus gutem Grund: Viele Jahre arbeitete er in den USA, vor allem in New York und in Los Angeles. 1948 starb er in Hollywood. Drei Jahre später ließ die legendäre Berliner Schauspielerin Ruth Landshoff-Yorck seine sterblichen Überreste auf den Stuttgarter Pragfriedhof ins bis heute bestens gepflegte Familiengrab überführen.
Die Vaihinger Vollmoellerstraße ist also falsch geschrieben – und über den großen Sohn Karl in Stuttgart sträflicherweise so gut wie nichts bekannt. Das Leben dieses kosmopolitischen Abenteurers birgt viele schillernde Kapitel, auf die nur eine Stadt verzichten kann, die ihre Geschichte gern ignoriert. Es ist Zeit, das Leben Karl Gustav Vollmoellers öffentlich aufzuarbeiten und darzustellen. Da schlummert unglaublicher, oft auch umstrittener, auf jeden Fall höchst aufschlussreicher und unterhaltsamer Stoff – mit reichlich berühmten Namen wie Max Reinhardt, Greta Garbo, Charlie Chaplin, Billy Wilder, Marlene Dietrich. Sein literarischer Nachlass lagert übrigens im Deutschen Literaturarchiv Marbach, und vielleicht findet sich ja jemand mit Lust und Neugier auf die spannenden Dinge, die diese Stadt in den Pausen zwischen ihrem Einkaufs- und Baustellenrummel zu erzählen hat.
Weihnachten ging dem Ende zu, als ich nach einem Spaziergang durch den Vaihinger Ortskern neben den Gleisen im Wirtshaus Zum Alten Bahnhof einkehrte, einer ziemlich bekannten, weil heimeligen Bahnhofswirtschaft. Als ich mich setze, läuft auf dem Bildschirm an der Wand ein Film über ein Konzert des britischen Popsängers George Michael. Nach einer Weile sehe ich, dass die Doku von seiner Benefiz-Show zugunsten der Aidshilfe 2012 in der Opéra Garnier handelt, dem ersten Auftritt eines Popstars in diesem Pariser Opernhaus überhaupt. Leider habe ich diesen berühmten Originalschauplatz des „Phantoms der Oper“ nie von innen gesehen; doch auch für den Herumstiefler im Vaihingen ist das Haus leicht zu erkennen an Marc Chagalls berühmtem Deckengemälde aus den sechziger Jahren.
Die Nachricht von George Michaels Tod mit 53 Jahren am ersten Weihnachtsfeiertag 2016 war noch relativ frisch. Als ich den Wirt frage, was es mit dem Film in seinem Lokal auf sich habe, sagt er, diese Doku habe er an diesem traurigen Tag auf YouTube für sich ausgesucht: George Michael, getauft auf den Namen Georgios Kyriakos Panagiotou, sei schließlich der Sohn eines griechisch-zypriotischen Vaters. Der Wirt im Wirtshaus Zum Alten Bahnhof ist Grieche und die Welt nicht nur zwischen den Jahren klein.