Liebe Freundinnen und Freunde des Flaneursalons,
starten wir heute gleich mit dem Flaneursalon. Den gibt’s ja immerhin seit fast 25 Jahren. Für unsere kleine Open-Air-Show am Freitag, 18. August, im Garten der Ratze liegen noch Karten bereit. Und leider noch zu viele. Mindestens 150 Besucher:innen müssen den Raichberg erklimmen,, damit ich das Allernötigste bezahlen kann – nämlich Technik und Mitwirkende. Hoffen wir mal, dass sich mit dem besserem Wetter in den nächsten Tagen noch was tut. Auf die Bühnen gehen diesmal sieben Gäste: Oliver Maria Schmitt, das Katalyn Horvath Trio, Loisach Marci und Eva Leticia Padilla & Dany Labana Martínez. Unsereiner macht auch mit – aber der schickt mir erfahrungsgemäß keine Mahnung, wenn ich ihm als Gage nur etwas frische Luft überlasse. Ist ja kein Berufskünstler. Zwanzig Euro pro Karte sind für den Aufwand unserer Lieder- und Geschichtenshow wirklich anständig. Ich versuche ja, den Preis immer so zu halten, damit das Ganze nicht nach Reibachmachen riecht. Berufskünstler:innen und die Technik-Leute müssen allerdings anständig bezahlt werden. Was prekäre Bedingungen im sogenannten Kulturbetrieb für Folgen haben, wissen wir nicht erst – aber spätestens – seit der Corona-Pandemie. Im Nachinein betrachtet, war die Arbeit unserer KÜNSTLER:INNENSOFORTHILFE STUTTGART bitter nötig. Und ohne Flaneursalon wäre ich womöglich gar nicht auf die Idee gekommen, diese Initiative zu starten. Karten für den 18. 8. gibt es per Mail: ratzestr@gmail.com – und am Tresen im weltweit beliebten Wirtshaus Schlesinger.
Wer mir etwas sagen möchte, erreicht mich hier: flaneursalon@joebauer.de – Interessante Kommentare o. ä. sind auch ein Fall für die Depeschenseite.
Vorherige Depeschen findet man mit dem Pfeil oben links <.
Meine nächste Kolumne erscheint online am Mittwoch kommender Woche in der Kontext: Wochenzeitung – der Link dazu wie immer auch hier..
Und hier noch ein bisschen was zum Lesen, eine Kolumne von 2018:
STUKKERT AM NECKARSTROME
Alles war im Fluss, ich musste hinaus. Der erste schöne Sommertag des Jahres mitten im April bereitete mir ein so schlechtes Gewissen, dass ich am Abend in rasch angezogenen Turnschuhen zur U-Bahn-Haltestelle stiefelte. Wenn ich zum Fluss aufbreche, lasse ich die Stiefel im Stall. Hohe Absätze und Schäfte sind bei Bedarf etwas hinderlich beim Schwimmen im Neckar. Über den Wilhelmsplatz gehe ich Richtung Rotebühlplatz, vor dem ausgetrockneten Brunnen lege ich eine Gedenkminute ein. Der Sigmundbrunnen wurde benannt nach einer ehemaligen Metzgerei an der Hauptstätter Straße 29, wo er bis 1968 gestanden hat. Seit 50 Jahren dekoriert er den tristen Wilhelmsplatz.
Noch ist nicht überall Fließendwassersaison, der Brunnen wirkt deshalb verlassen wie ein paar Meter weiter die Landeszentrale der SPD. Mit der Linie 14, einer unserer schönsten Straßenbahnstrecken, fahre ich nach Cannstatt. Ausstieg an der Haltestelle vor dem Alten Hasen. Ich erzähle es nicht zum ersten Mal, die meisten aber haben es sicher vergessen: In diesem Wirtshaus an der Neckartalstraße starb im März 1876 der Revolutionsdichter Ferdinand Freiligrath an Herzversagen. Mit dem Autobauer Gottlieb Daimler und dem Komödianten Oscar Heiler ruht er heute in Frieden auf dem Cannstatter Uff-Kirchhof, während im Hasen zuweilen die Grabgesänge der VfB-Fans zu hören sind.
Keine zwei Jahre vor seinem Tod übermittelte Freiligrath seinem Kollegen Julius Wolff die hoffnungsvolle Botschaft: „Wir sind eben aus Stuttgart in die frische Neckarluft von Cannstatt übergesiedelt.“ Schon vor der Erfindung des Benzinmotors herrschte Schmutz- und Staubalarm im Kessel. Die Luft, schreibt der Literaturwissenschaftler Jan Bürger in seinem Buch „Der Neckar – Eine literarische Reise“, „konnte einem schon auf die Nerven gehen, als die Pferdekutsche noch das wichtigste Verkehrsmittel war“. Dies belegt er mit Sätzen des Dichters Nikolaus Lenau, der 1844 in Stuttgart die „Ausdünstung des Teufels“ beklagte: „Verdammtes Kloakenthal! Die Luft ist zwischen diesen fleißigen und abgeschwitzten Weinbergen so dumpf u. matt, so verbraucht und beschmutzt, als wäre sie durch meilenlange Windungen von Eingeweiden hindurchgegangen, ehe man sie in Nase u. Lunge bekommt.“
Das kann nur heißen: Stuttgarts Klima ist das Ergebnis eines gewaltigen Dauerfurzes. Das Rathaus sollte nicht mehr Feinstaub-, sondern Flatulenzalarm auslösen. Das würde vor allem dem Umgang der Politik mit den Verkehrsinfarkten und Gestankattacken in derr Stadt gerecht. Wer sich am Alten Hasen zur Wilhelmsbrücke über den Neckar aufmacht, spaziert trotz des nervenden Verkehrs auf der Neckartalstraße in eine schöne Nische der Stadt hinein. Am rechten Ufer liegt der Neckarbiergarten mit Blick aufs Wasser. Ein erbaulicher Platz, eine dieser Wurstsalat-Oasen abseits betonierter Eingeweide. Wenn es dunkel wird, ist die Aussicht auf die Lichter am Fluss und auf die schimmernden Wellen ein Genuss.
In dieser Umgebung hat der Spaziergänger endlich mal direkten Zugang zum Wasser, er schlendert am Ufer entlang und blickt auf Cannstatts malerische Altstadtkulisse. Angesichts des charakterlosen Umgangs mit dem Neckar auf Stuttgarter Boden erscheint mir diese Gegend wie ein Ferienort in der Fremde. Seltsam nur, dass es an einem so herrlichen Abend nicht mehr Menschen ins Herz von Cannstatt zieht. Womöglich ist an dieser Stelle Gottlieb Daimler mit dem weltweit ersten Motorboot vorbeigeschippert – im Sommer 1886, schon vor der Jungfernfahrt seiner revolutionären Motorkutsche. Mehr als 40 Jahre zuvor hatte Heinrich Heine in seinem „Wintermärchen“ gedichtet: „Ich möchte nicht tot und begraben sein / Als Kaiser zu Aachen im Dome / Weit lieber lebt’ ich als kleinster Poet / zu Stukkert am Neckarstrome.“
Mit diesen Versen im Kopf sitze ich kleiner Neckarstromer zufrieden im Biergarten. Dieses Stukkert aber hat bis heute ein gestörtes Verhältnis zu seinem Fluss, der unsere Stadt nur als unerhebliche Durchgangsstation kennt. Fast 370 Kilometer legt der Neckar von seinem Schwenninger Ursprung bis zu seiner Mannheimer Mündung in den Rhein zurück. Von Plochingen bis nach Mannheim, auf den 200 Kilometern dieses seit 1968 schiffbaren Wegs, überwindet er 161 Meter Höhenunterschied: Das entspricht der Turmhöhe des Ulmer Münsters. Schon zehn Jahre vor dem Umbau des Neckarbetts fürs Industriegeschäft wurde der Stuttgarter Hafen eröffnet.
Im Sommer 2018 feiert man seinen 60. Geburtstag. Am Rathaus hängt ein Transparent zur Jubiläumsausstellung im zweiten Obergeschoss. Die Schau trägt den – poetisch berührenden – Untertitel: „Über die Entwicklung einer wichtigen Logistikdrehscheibe in unserer Wirtschaftsregion“. Über Zahlen und Technik wissen wir viel, etwa dass ein Neckarschiffer auf der Strecke von Plochingen nach Mannheim siebenundzwanzigmal eine Schleusenkammer, den Fahrstuhl der Flussfahrt, ansteuern muss. Über die Seele des Flusses wissen wir nichts. Unsereins ist kein Seemann und kein Industriekapitän, nur ein Spaziergänger, der von Zeit zu Zeit ran will an den Neckar, möglichst nahe, damit er mehr hat von der Stadt – und nicht dauernd von den Verbotsschildern der Strompolizei zurückgewiesen wird. Die „Strompolizei“ hat nichts mit Elektrik zu tun, sie konrolliert den Fluss. Eine Stadt ohne Fluss? Wie ein Brunnen ohne Wasser.
Ankerplatz Wilhelmsbrücke. Im flimmernden Licht des frühen Sommerabends gehe ich durch eine altstädtische Kulisse, wie sie nur der Fluss erschafft. Ein bisschen Großstadt. Die Dunkelheit am Wasser scheint die „Ausdünstungen des Teufels“ zu schlucken. Und wenn ich die Ohren spitze, höre ich, wie mir unter der Brücke die Fische was husten. Ich bleibe stumm. Und weiß, was sie meinen.