5. Mai 2023
Liebe Freundinnen und Freunde des Flaneursalons,
am diesem Freitag, 5. Mai, findet auf dem Stuttgarter Pragfriedhof die Trauerfeier für Gert Ehret statt. Am Ostermontag ist er nach schwerer Krankheit mit 71 Jahren gestorben. Viele Jahre war er Wirt der Gaststätte Lehen im Süden der Stadt: ein liebenswerter, aufrechter, überaus hilfsbereiter Mensch und Gastgeber. In den Achtzigern, als seine Kneipe eine Art alternative Insel war, habe ich einige Jahre im Nachbarhaus des Lehen gewohnt. Auf Wunsch seiner Schwester Birgit werde ich heute ein paar Sätze sagen. Obere Trauerhalle, 14 Uhr.
KOLUMNEN
Weil meine Kolumnen unter dem Titel „Auf der Straße“ in der Kontext:Wochenzeitung oft in einer Form präsentiert werden, die mit dem Inhalt wenig zu tun hat, stelle ich die Texte in Zukunft auch auf diese Seite. Bisher habe ich sie fast immer nur verlinkt. Mein jüngster Beitrag beispielsweise wurde so angekündigt und aufgemacht, als handle es sich um eine Geschichte über den verstorbenen Harry Belafonte. Das ist natürlich Unsinn. Meine Sachen leben in der Regel von der Verkettung von Gedankensprüngen, von den Assoziationen eines Spaziergängers. Hier der Text:
ZUM LETZTEN GEFECHT
Wer diese Zeilen liest, ist nicht zwingend doof, sollte aber wissen, dass das Internet ein schlimmerer Klimakiller ist als der Flugverkehr. In meinem Laptop-Fall lässt sich das auch nicht mit meiner Fußgängerei kaschieren, wenngleich ich mich als Herumstiefler mit Bio-Antrieb jedem Lamborghini-Fahrer mit eingebautem Online-Pornokino überlegen fühle. „Der Rhythmus des Gehens bringt eine Art Denkrhythmus hervor“, schreibt Rebecca Solnit in ihrem Buch „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“.
Für den richtigen Rhythmus unten und oben habe ich neulich „Rare Belafonte“ aufgelegt, bevor ich das Haus verließ. Mein Lieblingssong auf dieser LP ist „Jerry (This Timber Got To Roll)“. Es geht um einen Arbeiter und das Arkansas-Muli Jerry, die einen Wagen voller Holz über eine staubige Straße ziehen. Der Boss des Arbeiters, vermutlich Autofahrer, will das Maultier abknallen. Doch Jerry duckt sich weg, gibt dem Kerl einen Tritt und überlebt.
Harry Belafonte ist am 25. April mit 96 Jahren gestorben. Leider habe ich ihn immer nur aus der Ferne gesehen. Anders als mein Kollege R., der die magischen Kräfte des Weltstars kennenlernte, als er ihn 2012 anlässlich der Veröffentlichung seiner Autobiografie „My Song“ in Köln interviewte. Weil der Kollege, womöglich ein Boomer, Probleme mit seinem analogen Aufnahmegerät hatte, fragte ihn Mr. Belafonte, ob er mal nachsehen dürfe. Er griff sich das Ding, schnippte mit den Fingern – und es funktionierte. This recorder got to roll.
Gut möglich, dass mein Denkrhythmus unter einem falschen Gehrhythmus leidet. Sicher ist: Meine Beinarbeit erzeugt eigenwillige Zusammenhänge. Eine Zeit lange habe ich mich mit dem analog ausgerüsteten Kollegen zur Weltbetrachtung im Lokal Bosporus am Stuttgarter Kernerplatz getroffen. Vor ein paar Wochen jedoch, als wir uns wie gewohnt vor dem Restaurant einfanden, der Schock: Der Türke war weg. Für immer. Eine gerade per Auto ankommende Frau teilte uns mit, sie werde hier demnächst ein chinesisches Lokal eröffnen. Die Gaststätte liegt gegenüber dem türkischen Konsulat, in einem türkisch belebten Viertel mit allerlei entsprechenden Geschäften. Ein echter Culture Clash, nicht zu verwechseln mit der kulturellen Anschleimung Stuttgarter Rummelplatzleiber in Dirndl und Lederhose.
Es ist so weit, könnte man denken: Die chinesische Weltmacht überrollt uns. Ihren globalen Anspruch erkennt man auch daran, dass das neue Lokal nicht etwa Peking oder Chin Chin heißen wird. Sondern Appetize. Damit ich aber nicht verdächtigt werde, mich der sensiblen Hau-den-Chinesen-Diplomatie unserer grünen Außenministerin anzuschließen, widerlege ich hiermit alle Fake News über imperialistische Auswüchse: Der liebenswerte Bosporus-Koch Kemal hat seine köstliche Küche lediglich aus Altersgründen eingestellt.
Geschockt war ich kürzlich auch, als das ZDF-Politbarometer meldete, nicht mehr unser feministischer Weltbühnenstar im Außendienst throne an der Spitze der deutschen Politlieblings-Hitparade. Sondern der Verteidigungsminister. Das sagt alles über das Klima im Land: Hurra, im Gleichschritt Marsch durch die Institutionen. Jedenfalls ist es zurzeit nicht empfehlenswert, sich gegen den herrschenden Militarismus an einen Leopard oder Marder zu kleben. Dass nach Raubtieren benannte Panzer schon bei unseren ehrwürdigen Vorfahren beliebt waren, sei am Rande erwähnt: Die Nazis hatten einen Tiger und einen Panther in ihrer Wehrmacht, in der Entwicklung waren damals auch schon Panzerfahrzeuge namens Leopard und Marder. Wir lernen daraus: Nichts geht über gute deutsche Tradition. Vergangenheit vergeht nicht.
Ich kann nichts für meinen Denkrhythmus, er wird, wie gesagt, von den Füßen gesteuert. Wenn ich vom Kernerplatz die Kernerstraße hinuntergehe, komme ich an einem Gebäude mit der Tafel „Deutsche Polizeigewerkschaft“ vorbei. Diese Aufschrift strahlt in tiefem Blau, nur die letzten Buchstaben sind mit einem knallroten Klecks verziert. Wahrscheinlich ein vorbeifliegendes Rotkehlchen mit Dünnpfiff, wie der Boomer sagt (zur Klarstellung: Da unter diesem Markenzeichen die zwischen 1955 und 1969 Geborenen gehandelt werden, bin ich ein Pre-Boomer).
Weil ich gerade die gute Tradition deutscher Uniformierter erwähnt habe, noch ein Blick auf das Blaulicht unserer Polizei. Seine Geschichte erklärt uns sehr schön Rayk Wieland in „Beleidigung dritten Grades“, seinem großartigen, witzigen Roman über den toxischen Wahn sich duellierender Männer. Darin erzählt die Polizistin Tannenschmidt, warum Hitler das Blaulicht gleich 1933 einführte: „Weil er schon an den Luftkrieg dachte. Blaues Licht streut in großen Höhen. Feindliche Bomber können es von da oben nicht sehen. Das war der Grund. Muss man sich mal vorstellen. Deshalb fährt die deutsche Polizei heute immer noch so herum. Wegen Hitler. Und Luftkrieg.“
Angesichts der Nazibirnen auf luftkriegstauglichen Bullenautos setzt mein merkwürdiger Denkrhythmus in meinem Gehirn eine Episode frei, die schon 40 Jahre zurückliegt. Hat mit „Erichs Lampenladen“ zu tun. So nannte man einst, mit Blick auf Honecker, den Palast der Republik, Ostberlins Entertainment-Tempel. Mein Gedankensprung in diesem Fall wurde allerdings nicht nur von deutschen Leuchten, sondern auch von meiner Erinnerung an Harry Belafonte ausgelöst.
Im Herbst 1983, während der Proteste gegen den Aufrüstungswahn in Ost und West, war es eine politische Sensation, als der westdeutsche Rockstar Udo Lindenberg zum „Festival für den Frieden der Welt“ in den Palast der Republik eingeladen wurde. Zuvor, nach erfolgloser Bettelei um eine DDR-Tournee, hatte er Honecker mit der Hymne „Sonderzug nach Pankow“ ein Denkmal gesetzt: „Erich, ey, bist du denn wirklich so ein Schrat / warum lässt du mich nicht singen im Arbeiter- und Bauernstaat …“
Weil ich damals schon ein paar Interviews mit Lindenberg gemacht hatte, ließ mich der badisch-hessische Konzertmanager Fritz Rau an der DDR-Expedition teilnehmen mit den Worten: „Der Schwabe darf mit …“ So landete ich als 29-jähriger Provinzler mit großen Augen im Palast der Republik. Die Bilder dieser im Westen als „Propaganda-Show“ abgekanzelten Gala sind bekannt: Draußen vor dem Gebäude skandierten junge Menschen „Wir wollen rein“, „Wir wollen Udo“, drinnen saßen FDJ-Blauhemden und SED-Funktionäre. Es ging an diesem Abend unter anderem gegen die US-Pershings und, dank Lindenberg, auch gegen die SS 20 der Sowjets (damit waren weitere Tourneepläne für ihn gestorben). Als nach meinen vielen Fehlversuchen endlich ein FDJ-Zögling mit mir redete, sagte der: „Ich möchte das Ganze wie Lenin sehen. Um den Frieden zu verteidigen, muss man sich notfalls auch mit dem Teufel zusammentun.“ So sieht’s aus.
Publikumsliebling dieser Friedensparty mit internationalen Künstlern war allerdings nicht Lederhosen-Udo, sondern der große Sänger und Schauspieler Harry Belafonte. Der so mutige wie großzügige Aktivist der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, ausgestattet mit ungeheurem Charisma, wurde als wahrer Held im Saal gefeiert. Als im Finale der Show alle Mitwirkenden „We Shall Overcome“ anstimmten, setzte sich uns Udo demütig im Hintergrund ans Schlagzeug: „Er trommelt zum letzten Gefecht“, tippte ich in meine Reiseschreibmaschine.
Jahre später erzählte mir Lindenbergs Gitarrist Hannes Bauer, wie sich die Musiker des Panik-Orchesters hinter den Kulissen gewaltige Joints reinzogen. Due Stasi-Schnüffler in Erichs Lampenladen atmeten tatenlos durch.
Die Rauchzeichen des Weltfriedens sind längst verweht, das Klima der Abrüstung wurde gekillt.
2006 haben die deutschen Herren den Palast der Republik mit historisch gut geübter Brutalität abgerissen. Als Erinnerung bleibt eine Stuttgarter Vergnügungs-Rarität. 1989, im Jahr des Mauerfalls, wurde im Zentrum der Stadt eine Kneipe eröffnet. Der Name: Palast der Republik. Das Gebäude: eine ehemalige öffentliche Toilette.
WER MIR SCHREIBEN WILL, kann es per Mail tun: flaneursalon@joebauer.de
Veranstaltungshinweis: Geraubte Kinder
Hier der Text der Veranstalter:
Der Opferverein „geraubte Kinder – vergessene Opfer“ lädt ein:
Filvorführung und Zeitzeugengespräch mit drei ehemaligen geraubten Kindern. Am Montag, 8. Mai, 19 Uhr, im Württembergischen Kunstverein, Stuttgart.
Die Landesregierung in Baden-Württemberg verzögert offenbar bewusst Wiedergutmachung für geraubte Kinder. Kinderraub ist aktueller denn je. Die Nazis raubten während des 2. Weltkrieges in besetzten Gebieten wie Slowenien, Polen und Russland zwischen 50.000 bis 200.000 Kinder, die dem Menschenbild der Nazis entsprachen: blond, blauäugig, arisch. Leider wurden die Opfer nie durch die Bundesregierung entschädigt, obwohl es sich dabei um Kriegsverbrechen und Genozid handelt.
Inzwischen ist es dem Verein „geraubte Kinder – vergessene Opfer“ durch eine Petition gelungen, dass die Landesregierung in Baden-Württemberg an die geraubten Kinder eine Wiedergutmachung zahlen muss, so hat es der Petitionsausschuss des Landestages mit Zustimmung aller Fraktionen beschlossen. Die Landesregierung hatte Ende November 2022 großspurig erklärt. Jedes Opfer soll „möglichst direkt und unbürokratisch“ 5.000 Euro erhalten.
Nach über sechs Monaten des Wartens, des ständigen Nachfragens ist bisher bei den NS-Opfer nicht einmal ein Antrag angekommen.
Die Landesregierung verzögert die Auszahlung allem Anschein nach bewusst. Hermann Lüdeking (87 Jahr alt), der durch die Kinderraubmaschine des SS Lebensborn aus Polen entführt und gewaltsam umerzogen wurde, findet deutliche Worte: „Sie warten ab, bis wir alle Tod sind, dann müssen sie nichts mehr bezahlen …“
Der Eintritt ist kostenlos.
FLANEURSALON LIVE
Der nächste Flaneursalon ist als sommerliche Freiluft-Angelegenhei gedacht: Am Freitag, 9. Juni, sind wir im Garten der RATZE am Raichberg. Diesen reizvollen Ort auf den Hügeln Gaisburgs mit Blick auf die Stadt habe ich im vergangenen Jahr okkupiert, als ich in der Kleingärtner-Kneipe Ratze beim Mittagessen saß. Im Garten steht eine kleine überdachte Bühne, und ich dachte mir: Bühnen sind eigentlich nicht dazu da, mit Gerümpel voll gestellt zu werden. So gab es dort im Sommer 2022 aufgrund der großen Nachfrage gleich zwei Flaneursalons, und das Publikum hatte große Freude. Gutes Klima da oben.
Der Vorverkauf für den Flaneursalon in der Ratze hat bereits begonnen. Meine Bühnengäste sind Thabilé & Steve Bimamisa, Eric Gauthier & Friends und Oliver Maria Schmitt. Würde mich nicht wundern, wenn noch ein Überraschungskünstler dazustieße … kontrollierte Maßlosigkeit ist mein Prinzip.
Plätze buchen kann man per Mail: ratzestr@gmail.com – Karten gibt es ab sofort auch am Tresen im SCHLESINGER.