Liebe Freundinnen und Freunde des Flaneursalons,
seit ich 1972 als Volontär meine Redakteursausbildung begann, bin ich in der Gewerkschaft. Erst IG Druck und Papier, dann IG Medien, schließlich Verdi. Seit 2019 bin ich Rentner, aber immer noch zahlendes Mitglied. Mit der Gewerkschaft hab ich im Lauf der Jahre gute und schlechte Erfahrungen gemacht, wie mit allen anderen Dingen im Leben. Nie allerdings kam ich auf die Idee, auszutreten. In meiner Zeit als angestellter Journalist habe ich mit der Gewerkschaft an einigen Streiks aktiv teilgenommen und gelernt, dass Streikende in längeren Phasen der Arbeitsniederlegung mit Aufgaben beschäftigt sein müssen, um keine psychischen Probleme zu bekommen. Viele definieren sich so sehr über ihre Arbeit, dass sie in einer Pause in ein Loch fallen. Es gibt schon auch Leute, die Streiks als „Freizeit“ begreifen und ins Schwimmbad gehen. Mit etwas politischem Bewusstsein aber nimmt man am Kampf um bessere Arbeitsbedingungen teil, indem man bei der Organisation und Durchführung von Aktionen mithilft: Texte für Flyer und soziale Medien machen, Flyer verteilen, Kundgebungen und Demos gestalten … Wirkung erzielen.
Bei keinem Streik hatte ich Langeweile. Jeden Tag war etwas zu tun. Die gute Erfahrung war, dass sich oft Kolleginnen und Kollegen engagierten, mit denen ich aufgrund von Unkenntnis oder Vorurteilen gar nicht gerechnet hätte. Die schlechte Erfahrung: In einem langen Streik, in unserem Fall mit überraschend hoher Beteiligung, wurden ehrenwerte Vorsätze gefasst, das Engagement für bessere Bedingungen auch im alltäglichen Arbeitsleben fortzusetzen – kaum aber waren wir an unseren Arbeitsplätzen zurück, lief alles wie zuvor. Keine Spur mehr eines solidarischen Gedankens, keine gemeinsamen Treffen mehr. Kommt auch daher, dass sich etliche, wohl aus Gründen der Selbstaufwertung, nicht als Abhängige der Arbeitgeber fühlten. Klassenbewusstsein war ein weitgehend verpönter Begriff. Und nicht selten hörte ich auch Stimmen, die mit einer Mischung aus Eitelkeit und Dummheit kundtaten, sie seien in der Lage, ihre Dinge im Betrieb selbst und allein zu regeln. Den Gewerkschaftsbeitrag könne man sich sparen. Das sind die Früchte neoliberaler Propaganda.
Jetzt heißt es wieder „Heraus zum 1. Mai“, und da fällt mir immer der in Ludwigsburg aufgewachsene Kommunarde und Spaß-Guerillero Fritz Teufel ein. Als in der Zeitung „Rote Fahne“ mal wieder die Schlagzeile „Heraus zum 1. Mai“ erschien, schrieb er aus dem Knast heraus an die Redaktion: „Mir ist auch jedes andere Datum recht. Fritz Teufel. JVA Tegel“. Dazu muss man wissen, dass er fünf Jahre wegen falscher Anschuldigungen in Untersuchshaft saß. Es ging um die Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz. Sein Alibi lieferte er 1980 vor Gericht, um die reaktionäre, politisch motivierte Justiz bloßzustellen. Außdem, sagte er, sei er davon ausgegangen, dass er auch ohne Tatbeteiligung fünf Jahre bekommen hätte. Alte Geschichte.
Gegenwärtig scheint es so, als könnten die deutschen Gewerkschaften an Bedeutung zurückgewinnen. Falsch ist immer, diese Organisationen pauschal zu beurteilen. Wie überall findet man dort Frauen und Männer, die etwas können und etwas tun, und ebenso welche, die nicht viel taugen. Meine Privaterfahrungen spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Klar muss sein, dass auch für viele politische Aktionen Gewerkschaften unentbehrlich sind. Ich der militaristischen Stimmung, die sich zurzeit auch in unserer Gesellschaft ausbreitet, sollte man alle Möglichkekiten gemeinsamer politischer Arbeit schätzen. Die gilt auch im Kampf gegen den Rechtsruck: Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus. Gegen Nazis und ihre geistige Gefolgschaft in vielen Bereichen.
Zum 1. Mai gibt es in Stuttgart etliche Veranstaltungen, vom DGB bis zur Antifa. Es gibt Treffpunkte mit Live-Auftritten wie etwa die Waldheime in Gaisburg (Friedrich-Westermeyer-Haus) und in Sillenbuch (Clara-Zetkin-Haus), das Gasparitsch in Ostheim und das Linke Zentrum Lilo Herrmann in Heslach (ab ca. 16 Uhr mit dem kubanischen Song-Duo Marcos Gutiérrez & Johnatan – was nicht auf der Webseite steht).
Wer mir schreiben will, kann dies übrigens unter dieser Mailadresse tun: flaneursalon@joebauer.de
FLANEURSALON LIVE
Der nächste Flaneursalon ist als sommerliche Freiluft-Angelegenhei gedacht: Am Freitag, 9. Juni, sind wir im Garten der RATZE am Raichberg. Diesen reizvollen Ort auf den Hügeln Gaisburgs mit Blick auf die Stadt habe ich im vergangenen Jahr okkupiert, als ich in der Kleingärtner-Kneipe Ratze beim Mittagessen saß. Im Garten steht eine kleine überdachte Bühne, und ich dachte mir: Bühnen sind eigentlich nicht dazu da, mit Gerümpel voll gestellt zu werden. So gab es dort im Sommer 2022 aufgrund der großen Nachfrage gleich zwei Flaneursalons, und das Publikum hatte große Freude. Gutes Klima da oben.
Der Vorverkauf für den Flaneursalon in der Ratze hat bereits begonnen. Meine Bühnengäste sind Thabilé & Steve Bimamisa, Eric Gauthier & Friends und Oliver Maria Schmitt. Würde mich nicht wundern, wenn noch ein Überraschungskünstler dazustieße … kontrollierte Maßlosigkeit ist mein Prinzip.
Plätze buchen kann man per Mail: ratzestr@gmail.com – Karten gibt es ab sofort auch am Tresen im SCHLESINGER.
DIE NACHT DER LIEDER
Regelmäßig werbe ich auf dieser Seite – wenn auch ziemlich erfolglos – für Die Nacht der Lieder. Diese Benefiz-Show spielt seit 2001 Geld für soziale Zwecke ein und lief bis zum Ausbruch der Pandemie mehr als gut. Immer sehr frühzeitig ausverkauft. Nach einer Absage 2020 wegen Corona und der darauf folgenden Veranstaltung mit halbierter Raumkapazität aufgrund der Pandemie-Auflagen sind die fetten Jahre vorbei. Ich kann alle hier nur bitten und betteln, sich die relativ günstigen Karten für unseren Mix aus Pop und Jazz, Klassik und Komik zu besorgen. Ein ähnliches Ereignis gibt es in Stuttgart nicht. Und die Künstler*innensoforthilfe wäre ohne diese Benefiz-Veranstaltung inzwischen schon pleite. Termin 2023: 5./6. Dezember, Theaterhaus. Vorverkauf: THEATERHAUS – Kartentelefon: 0711/4020720