Liebe Freundinnen und Freunde des Flaneursalons,
ein paar Tage war ich aushäusig, mit der Bahn in der Camargue, in der Nähe von Nîmes. Lange Spaziergänge von Dorf zu Dorf, einmal bis zum Meer, ein wenig lesen, sonst nichts.
In Frankreich begann gerade der große Generalstreik gegen Macrons Rentenreform; mit Glück kam ich dennoch rechtzeitig mit drei Zügen zurück nach Stuttgart, was ja nicht unbedingt ein großes Glück ist.
An einem Sonntag war ich beim Stierkampf, eine große Sache in der Gegend, sie pflegen dort die abgemilderte Form, ohne – wie in Spanien – das Tier am Ende zu töten. Die Camargue-Version hatte ich noch nie erlebt. Schön anzusehen sind diese Wettkämpfe in meinen Augen nicht. Die sogenannten Raseteure, junge Kämpfer in weißen Klamotten, versuchen, dem Stier eine kleine „Trophäe“ von der Stirn zu streifen, bevor sie vor seinem Angriff über die Barriere der Arena flüchten. Immer wieder kracht ein Tier gegen und über diese Barriere und holt sich eine blutige Nase.
Dieser Sport mit Mensch oder Tier als Sieger hat eine jahrhundertealte Tradition, und als Ahnungsloser habe ich dazu nichts weiter zu sagen. Höchstens, dass Wutschnauben, Aggression, Quälerei und scharfe Hörner sehr gute Symbole in diesen Tagen sind. Irgendwie passend, dass ich gerade zufällig John Williams‘ Roman Butcher’s Crossing las – und zwar so gefesselt vom gierigen Leben in der Wildheit, dass ich sofort zwecks Neubestellung in der Ostend-Buchhandlung anrief, nachdem ich das Buch auf dem Rückweg zum Bahnhof von Nîmes im Taxi vergessen hatte.
Tierschutz in der Camargue, wo überall Pferde und Stiere auf riesigen Weiden stehen, ist übrigens nicht mein wichtigstes Thema in Zeiten, da sich immer mehr Menschen bei uns für den Militarismus begeistern und das Wort „Frieden“ unter Generalverdacht steht. In Zeiten auch, da der Protest gegen den Klimawandel von Nichtstuern immer häufiger als „Terror“ verurteilt wird. Schon der politische/juristische Umgang mit den jungen Aktivist:innen ist für mich ein zwingender Grund, ihre Aktionen gutzuheißen. Gegen staatliche Repression hilft nur Solidarität.
Lesenswert, denke ich, ist meine jüngste Kontext-Kolumne über den Fälscher Konrad Kujau und die Verharmlosung der Nachkriegs-Nazis – wobei ich mir im Rückblick an die eigene Nase fassen muss. Hier geht’s zum Text: BRAUN GERÖSTET. Für die kommende Kontext-Ausgabe habe ich einen Erfahrungsbericht zum dritten Geburtstag der Künstler:innensoforthilfe Stuttgart geschrieben. Erscheint diesen Mittwoch. Man kann ihn aber auch SCHON JETZT UNTEN AUF DIESER SEITE lesen. Und damit sind wir bei unserer Veranstaltung:
3 JAHRE KÜNSTLER:INNENSOFORTHILFE:
EIN ABEND MIT BUNTEM PROGRAMM IM BIX
Die Künstler*innensoforthilfe Stuttgart lädt erstmals zu einem offenen Treffen. Dialoge, Begegnungen, Live-Musik. Freitag, 17, März. Einlass 18:30 Uhr. Eintritt frei. Es treten u. a. auf: Kammersängerin Diana Haller von der Staatsoper Stuttgart mit Vlad Iftinca am Klavier. Jazzsängerin Cemre Yilmaz mit André Weiß am Klavier, Popsängerin Eva Leticia Padilla mit dem Gitarristen Dany Labana Martínez, Violinistin Martl Jäckel & Pianist Roberto Saracino. Moderation: Katja Schmidt-Oehm & Stephan Moos (Theaterhaus-Schauspielensemble). Anmelden kann man sich zwecks besserem Überblick hier: BIX JAZZCLUB
SINTI: VERANSTALTUNG ZUM
GEDENKEN DER OPFER DES NAZI-REGIMES
An diesem Mittwoch, 15. März, gedenkt der Stuttgarter Verein Indus Kunst und Kultur der Sinti zum 80. Jahrestag der Deportationen am Nordbahnhof der Opfer der Nazi-Diktatur. Treffen um 19 Uhr am Denkmal Zeichen der Erinnerung. Um 20 Uhr gibt es Jazz, Gesang, Trauertanz, Texte in den Wagenhallen. Alle Interessierten sind eingeladen, auch zum Essen.
25 JAHRE FLANEURSALON:
ES GIBT NOCH KARTEN
In diesem Jahr feiert meine Lieder- und Geschichtenshow ihren 25. Geburtstag. Angefangen hat alles 1998 anlässlich der Vorstellung der Kolumnensammlung „Stuttgart – My cleverly hills“ im Gustav-Siegle-Haus – in den Räumen des heutigen Bix. Und dort sind wir am Mittwoch, 5. April, 20 Uhr. Bei der kleinen Hommage an diesen Ort sind die Flaneursalon-Gäste diesmal die Sängerinnen/Musikerinnen Meike Boltersdorf und Eva Leticia Padilla, der Rapper Toba Borke sowie der Kabarettist und Poet Jess Jochimsen. Ich denke, eine ordentliche Jubiläums-Besetzung. Es gibt noch gute Karten. Vorverkauf: KARTEN BIX
DREI JAHRE KÜNSTLER:INNENSOFORTHILFEE
ERINNERUNGEN AN DIE KÜHLSCHRANKFÜLLER
Aus aktuellem Anlass versuche ich mich heute an einem Erfahrungsbericht aus der Täterperspektive. Am 16. März wird die Künstler:nnensoforthilfe Stuttgart drei Jahre alt. Bemerkenswert womöglich, weil ich der Sache anfangs nicht mehr als drei Monate gegeben habe.
Am 7. März 2020 war ich mit meinem Flaneursalon im Stuttgarter Stadtarchiv in Cannstatt. Im Vorfeld hatte der Abend heftig gewackelt, niemand wusste, wie lange noch Veranstaltungen stattfinden können. Ein tödliches Virus grassierte. Alle Welt sprach von Corona und Covid-19, und es war klar, dass ein Shutdown, auch Lockdown genannt, nur noch eine Frage von Tagen war. Diese Begriffe waren neu für uns, sie bedeuteten heftige Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zum Schutz des Lebens. Und ein Lockdown bedrohte Existenzen. Beispielsweise Menschen, die auf Publikum angewiesen sind. Künstlerinnen und Künstler und alle, die im Veranstaltungsbetrieb arbeiten.
Wer regelmäßig bei politischen Aktionen mithilft, entwickelt eine Art Reflex, was zu tun, wenn was passiert. Es war klar, dass die Musiker:innen im Flaneursalon bereits wenige Tage nach unserem Cannstatter Auftritt nichts mehr verdienen konnten. Staatliche Hilfe konnte nicht schon morgen kommen. Und weil Menschen in der sogenannten Kulturszene oft unter prekären Bedingungen arbeiten, haben sie kein finanzielles Polster.
Ich meldete mich zunächst auf Facebook mit dem Vorschlag, in dieser Situation was zu unternehmen. Was genau, wusste ich noch nicht, hoffte allerdings, dass Solidarität mehr ist als eine Flugblattfloskel. Dann rief ich zwei der üblichen Verdächtigen an, den Linken-Stadtrat Tom Adler und den Filmemacher Goggo Gensch, die dabei sind, wenn es was zu tun gibt. Via Facebook meldete sich Peter Jakobeit, der sich im Verein Kultig e. V. für ein bedingungsloses Grundeinkommen engagiert. Das Grundeinkommen war zwar nicht mein Thema, aber ohne Verein im Rücken bist du hierzulande eine Null.
Am Montag, 16. März 2020, als der erste Lockdown ab 22. März beschlossen wurde, trafen wir uns mittags zu viert in der Altstadtkneipe Brunnenwirt. Wir nahmen uns vor, eine Spendenaktion für Menschen in der Kunst- und Kulturarbeit sowie für Studierende auf diesem Gebiet zu starten. Unser Startkapital – 5000 Euro – kam aus eigenem Anbau. Noch am selben Tag ließ ich einen E-Mail-Account einrichten und kaufte für unsere Initiative ein billiges Mobiltelefon. Nachmittags um vier erhielt der erste Musiker in Not von uns etwas Bares.
Das Geld für unsere Aktion wanderte fortan auf das Konto von Kultig e. V., dessen Vereinsstatuten wir von einem uns wohlgesinnten Steuerberater prüfen ließen. Die Bürokratie macht es einem nicht leicht, Spenden zu sammeln und weiterzugeben. Intern beschlossen wir mit Blick auf die Pandemie den Ausnahmezustand – und hofften auf ein Finanzamt, das mit einer toleranten Betrachtung des Lebens in Zeiten des Überlebens reagieren würde. Über soziale Medien informierten wir den Rest der Welt über unseren Plan. Umgehend meldete sich ein junger Genosse, er werde uns eine Webseite basteln. Solidarität ist nicht nur ein Wort. Das bestätigten uns später auch Institutionen wie die Staatsoper, das Kunstmuseum am Schlossplatz oder die Konzertdirektion Russ, die halfen, unsere Sache öffentlich zu machen. Fantastisch auch die stadtweite Plakatkampagne des Bureau Progressiv: „Beifall, Ausfall, Notfall“.
Die ganze Aktion war ähnlich zustande gekommen wie eine Spontan-Demo. Hinter unserer Initiative steckte kein Marketing, sondern ein politischer Gedanke. Der schnell gewählte Name Künstler:innensoforthilfe Stuttgart vermittelte ein etwas schiefes Bild. Denn die Unterstützung war für alle in der Kunst- und Kulturarbeit gedacht: Technik, Gastro, Hilfskräfte. Und es sollte nicht um das Sammeln von Almosen gehen, sondern um ein kleines Zeichen: Das Wort „Kultur“ steht nicht für Veranstaltungsbetrieb, sondern für eine Lebensart, und dazu gehören die Künste. Es ging uns gewissermaßen um die Verteidigung einer demokratischen Kultur, die auch ohne Corona ständig angegriffen wird: von Rassisten, Faschisten usw. Kunst hat nicht nur einem Wirtschaftsstandort zu dienen, sondern der Bildung und Aufklärung. Für eine halbwegs demokratische Gesellschaft unverzichtbar wie Lebensmittel. Das hässliche Pandemie-Wort „Systemrelevanz“ mieden wir. „Kultur“ gilt manchen politischen Kreisen nur als dekorativer Luxus. Entsprechend wird ein Theater gönnerhaft „subventioniert“, während der Straßenbau als Menschenrecht gilt und „finanziert“ wird.
Es wäre übertrieben, unserer Mini-Initiative große politische Bedeutung beizumessen. In den Augen vieler Betroffener waren und sind wir kaum mehr als eine Abholstation, eine anonyme Benefiz-Bude. Mit meinen politischen Hinweisen hier wollte ich lediglich erklären, warum und wie alles anfing. Weshalb es Zusammenhänge gibt bei allem, was man tut.
Zum Alltag. Seit dem Brunnenwirt-Treffen stellt Peter Jakobeit sämtliche Überweisungen aus, inzwischen sind es rund 4000; unsereiner macht die Öffentlichkeitsarbeit und prüft die Mail-Anfragen der Betroffenen. Einige Zeit musste sorgfältig recherchiert werden, weil nicht wenige versuchten, uns mit falschen Angaben – geliehenen Namen, Links auf fremde Homepages – zu täuschen. Davor ist man auch dann nicht sicher, wenn es um Nothilfen von nur 400 Euro geht. So viel geben wir im Schnitt Profis, Studierenden 300 Euro. Oft unterstützen wir auch nach individuellen Erfordernissen. Einzelne wichtige Projekte hielten wir mit stattlichen Summen am Leben. Gesetzlich sind wir der „Mildtätigkeit“ verpflichtet. Die Basis für unsere Arbeit heißt Vertrauen. „Kühlschrankfüller des Südens“, schrieb Anfang 2021 „Die Zeit“. So sahen wir uns selbst. Da hatten wir schon 700.000 Euro verteilt.
Politisch aktiv wurden wir auch auf der Straße. Im Frühjahr 2021 konterte ich Mail-Anfragen von Studierenden etwas boshaft mit der Bemerkung, ob sie es richtig fänden, wenn Rentner für sie Geld sammelten, während sie selber schwiegen. Das Ergebnis war nicht nur ein hitziger Wortwechsel, sondern auch die gemeinsam organisierte Kundgebung „Studieren statt stagnieren“ am 14. Juni 2021 auf dem Stuttgarter Karlsplatz. Dort kamen neben den finanziellen Problemen die großen psychischen Belastungen junger Menschen im Lockdown zur Sprache. Intensiv beteiligt waren wir auch an der Aktion „Rettet das Metropol“.
Was uns in den Anfangstagen überraschte, war die enorme Hilfsbereitschaft. Neben vielen, teils hohen Einzelspenden gab es stattliche Beträge von Stiftungen und Firmen. Und immer wieder machte ich die Erfahrung, dass auch bei außergewöhnlichen Spenden politische Kontroversen keine Rolle spielten. Das Siedlungswerk Stuttgart, ein renommiertes Immobilienunternehmen, überließ uns mehr als 50.000 Euro mit dem Hinweis: „Wir sind die Guten.“ Einmal wurde ich von einer Stiftung eingeladen, die anonym bleiben möchte. Einer ihrer Köpfe sagte, er kenne mich gut, nämlich als Stuttgart-21-Gegner. Er sei auf der anderen Seite aktiv – na und. Im Übrigen kenne er mich besser, als ich wüsste: Wir hätten mal zusammen Fußball gespielt, in den siebziger Jahren. So funktioniert das Leben. 90.000 Euro überwies uns diese Stiftung. (Der Großteil des weltstädtischen Stuttgarter Gemeinderats dagegen ignorierte uns – zu links.)
Jetzt, nach drei Jahren, leert sich unser Konto. Rund 1,6 Millionen Euro haben wir bis heute gesammelt und weitergeleitet. Inzwischen machen andere Probleme als Corona den Menschen zu schaffen. Der Krieg in der Ukraine. Die Inflation. Seit einiger Zeit verstehen wir uns nicht mehr nur als reine Pandemie-Nothilfe. Die Kostenkrise setzt vielen zu in der Kulturszene. Und nur mit Almosen ändern wir nichts. Es gäbe noch viel zu tun. KÜNSTLER:INNENSOFORTHILFE