Liebe Freundinnen und Freunde des Flaneursalons,
das Jahr ist so gut wie zu Ende, und ich halte nicht viel von Bilanzen. Immer wieder fällt mir ein Satz ein, der auf den Zusammenbruch der Nazi-Diktatur zielte: „Als alles zu Ende war, ging alles weiter.“
Nicht nur unsereiner geht am Silvestertag im T-Shirt durch die Stadt. Das Klima bzw. die Klimakatastrophe täuschen einem jetzt vor, alles, was zuletzt passiert ist, sei vorbei, als wäre es in einer anderen Jahreszeit geschehen. Vielleicht im Frühling.
Am 19. Dezember, am Tag vor der Nacht der Lieder, die ich seit 2001 veranstalte, starb unser langjähriger Leiter der Showband, Jens-Peter Abele. Der Tod kam mitten in den Proben mit seinen Kollegen in seinem Tonetemple Studio in Unterensingen. Herzattacke. Er wurde 54 Jahre alt. Als ich am Nachmittag die Nachricht per Telefon erhielt, war ich gerade auf der Straße – konnte mich nicht setzen, irrte herum.
Unsere Benefiz-Veranstaltung fand, nach gewissenhaften Gesprächen, an beiden Abenden im Theaterhaus statt. Die Phrase „The show must go on“ spielte keine Rolle, in unserem Fall geht es nicht um Profit oder kommerzielle Verpflichtungen. Wir sagten uns: Ein Musiker möchte nicht, dass im Fall seines Todes die Musik aufhört zu spielen. Zwei Kollegen der jungen Band Rikas sprangen ein und formierten spontan mit Freund:innen ein Ersatz-Quartett.
Jens-Peter Abele, ein sehr guter Gitarrist und versierter Produzent, war von Anfang an bei der Nacht der Lieder dabei, erst in Eric Gauthiers Band, dann als Bandleader unseres Bühnenensembles. Regelmäßig trat er in all den Jahren auch im Flaneursalon auf, als Begleiter von Eric Gauthier und zusammen mit Marcel Engler als Loisach Marci. In diesem Jahr war er zweimal Gast in meiner Lieder- und Geschichtenshow – und half auch bei Aktionen.
Die Beerdigung findet im Januar statt, der genaue Termin ist noch nicht sicher. Es muss ein würdiger Abschied werden.
Die unglückseligen Dezember-Tage habe ich noch nicht verdaut, ein kleiner Trost war der atmosphärisch sehr schöne Flaneursalon in der ausverkauften Rosenau am Tag nach Weihnachten. Das Song-Duo Brthr und die Sängerin und Keyboard-Artistin Meike Boltersdorf präsentierten dem Publikum konträre Sounds, und das Kontroverse ist ja genau das, was mir gefällt. Als Überraschungsgäste gingen der Rapper Toba und den Beatboxer Pheel auf die Bühne – ein kleines Comeback nach der harten Corona-Phase mit ihren vielen Wirrungen. Großartige skurrile Geschichten trug in der Rosenau der Autor Oliver Maria Schmitt vor. Für einen Eintritt von 22 Euro bekommt das Publikum bei uns vergleichsweise viel geboten – und dieses kontrastreiche Miteinander ist mir wichtig, auch wenn diese Idee im allgemeinen Wettbewerbsdenken gelegentlich nicht erkannt wird.
Ich erlebe jetzt den zweiten Jahreswechsel in der Urbanstraße nach Umzug und Trennung im März 2021, und von diesem unschönen Kapitel habe ich mich immer noch nicht komplett erholt. Was sich in den Hirnspeichern eingenistet hat, ist nicht so einfach zu löschen, da hilft alle sogenannte Ablenkung nichts. Erinnerungen lassen sich nicht „verarbeiten“ wie irgendwelche Materialien. Erinnerungen kommen bei allen möglichen Gelegenheiten, aus heiterem und bedecktem Himmel, und es geht immer darum, mit ihnen so umzugehen, dass man nicht aus einer Gleichgültigkeits- oder Zerstörungsstimmung heraus aus der Bahn fliegt.
Ganz froh bin ich, dass ich eine gewisse sportliche Disziplin aufrecht erhalte. Sonntagmorgens joggen, zweimal pro Woche Krafttraining bei Kieser – und einmal Schwitzen und Schwimmen im Bad Berg, das ich vom Kernerplatz aus inzwischen per Fuß ansteuern kann (was für ein Privileg). Ohne diesen Rhythmus würde womöglich einiges durcheinandergeraten, jedenfalls denke ich das, als alter Pessimist. Pessimismus ist eine gute Grundlage für Humor. Wer Humor besitzt, verspürt eher selten das Bedürfnis nach Witzen. Schlechte Witze füttern ja eine ganze Branche.
Jetzt also schon wieder ein neues Jahr, das kaum mehr taugen wird als das alte. Aber der Silvesterknall ist ja auch bloß ein Knall. 2023 wird der Flaneursalon 25 Jahre alt. Fürs Jubiläum und fürs neue Jahr habe ich bisher noch nichts geplant, mir ist zurzeit nicht danach. Immerhin sechs Flaneursalons fanden im schwierigen Jahr 2022 statt, der allgemeine Publikumsschwund traf uns nicht, und ich danke allen, die unsere kleinen Shows besucht haben.
Sicher ist, dass auch 2023 Die Nacht der Lieder stattfinden wird. Das Programm der Nummer 22 steht weitgehend – der Vorverkauf läuft. Diese Benefiz-Show ist seit jeher gedacht als ein Zusammenfinden vieler unterschiedlicher Menschen, die sich ergänzen. Mir ist klar, dass dieser Grundgedanke nicht alle erreicht, die dabei sind. Aber das internationale Gewusel ist nun mal eine schöne Sache. Karten gibt es hier: Theaterhaus
2021 und 2022 ging der Erlös der Nacht der Lieder an die Künstler:innensoforthilfe, die ich mit ein paar Freunden schon vor dem ersten Corona-Lockdown im März 2020 ins Leben gerufen habe. Nach wie vor sind Peter Jakobeit und ich aktiv. Inzwischen sind wir eine Art Krisenhilfe, und es ist weiterhin schwierig, Betroffenen zu vermitteln, dass „Kultur“ nicht „Veranstaltungsbetrieb“ bedeutet. Dass es uns wichtig ist, mit unserer Initiative auf die Bedeutung von Kunst als Bestandteil einer Kultur hinzuweisen, die wir als demokratische Lebensweise verstehen. Diese demokratische Lebensweise wird ständig angegriffen, vorzugsweise von rechts. Der solidarische Gedanke aber hat es schwer in einer neoliberal geprägten Gesellschaft. Daran wird sich auch 2023 nichts ändern, was nicht heißen kann, politisch zu kapitulieren.
Ich wünschen allen hier alles Gute für das neue Jahr. Verbessern kann sich nur etwas, wenn wir etwas tun. Auch auf der Straße, wo die Präsenz des menschlichen Körpers im politischen Engagement unersetzlich ist. In diesem Sinne und am Ende, das wartet: Lieber zu weit gehen als gar nicht.