Bauers DepeschenSonntag, 15. Juli 2018, 1981. DepescheTIPP: Die Band HISS spielt an diesem Donnerstag im Neckarhafen Siehe: NECKAR-KONZERT Hört die Signale! DAS LIED ZUM TAG LIEBE GÄSTE, hab mich jetzt doch entschieden, die eine Woche alten Texte aus meiner StN-Kolumne, die online zuvor nur hinter der Bezahlwand zu lesen waren, auf die Depeschenseite zu stellen. Auch wenn sie aktuelle Bezüge hatten. Ich mache das aus einem einfachem Grund: Bei Bedarf finde ich sie leichter ... Einen Text über alles, was sich gerade tut im Flaneursalon-Dunstkreis, findet man in der Depesche vom gestrigen Samstag. Kolumne vom 7. 7. 18 DIE STUHL-GANG Es geht wieder los. Nach etwas Ferien hab ich mich auf meinen Kolumnenstuhl gesetzt. In Wahrheit tippe ich meine Texte auf einem Allerweltsstuhl, der laut Volksmund mit jedem Arsch zurechtkommen muss. In der Stadt ist zurzeit ein chaotisches, neurotisches Stühlerücken im Gang. Kommunalwahlkampf. Dutzende hochwichtiger Herrschaften sind von ihren Sitzen gesprungen, um unter ihrem Vorsitz die Stadt neu zu erfinden. Vermutlich gehen sie davon aus, dass sich die Menschen im Kessel schon so sehr an ihr Maulwurfsdasein zwischen hässlichen Baustellen gewöhnt haben, dass sie geradezu süchtig sind nach neuen Auf-, Ab- und Umbrüchen unter dem Motto: „Unser Dorf soll schöner werden.“ Weil dieser Spruch schon etwas abgehalftert klingt, hat sich Aufbruch Stuttgart, ein Verein betagter, nach eigenem Verständnis von Visionen heimgesuchter Männer, etwas internationaler orientiert. Im operettenhaften Bemühen, Stuttgart mit Baggern in eine Art Welthauptstadt des betonierten Fortschritts umzumodeln, steigt am Sonntag, 8. Juli, das große Ding: Die Aufbrecher wollen die Stadtautobahn namens Konrad-Adenauer-Straße in „Our Urban Living Room“ verwandeln. In unserer weltläufigen Gemeinde müsste ich diesen Unsinn eigentlich nicht übersetzen, ich mache es dennoch, auch wenn „unser städtisches Wohnzimmer“ nicht ganz so megacool klingt, wie wir alten Männer nun mal sind. Zur Gestaltung des Etablissements ist die Bevölkerung aufgerufen, unter dem Motto „1000 Stühle“ mit Sitzgelegenheiten anzurücken. Erlaubt sind, heißt es, auch Campingstühle. Womöglich auch Chefsessel, Porschesitze und Fahrstühle beim Picknick „1000 Stühle“ auf der Adenauerstraße entspricht in etwa „Tausend Meilen Staub“, wie mal eine Westernserie mit Clint Eastwood hieß. Die lief in den fünfziger und sechziger Jahren, ist heute also etwas vom Winde verweht, passt aber zeitgeistmäßig voll in die kulturelle Aura des kollektiven Stuhlgangs: Musikalisch geteert und gefedert werden die Aktionisten von Nils Strassburg, einer heimischen Elvis-Kopie. Um Überraschungen bei der „besonderen Demonstration“ am Sonntag zu vermeiden, hat die Stuhl-Gang angekündigt, Mr. Strassburg werde inhaltlich kompatibel „I’ts Now Or Never“ (von 1960) intonieren. Als weiteres Entertainment-Highlight ist die FESSH-Band im Programm, eine Kapelle professioneller Jazzer und Hobby-Musikanten aus der Ärzteschaft, so dass beim fröhlichen Stühlestapeln chirurgische Erste-Hilfe-Maßnahmen gewährleistet sind. Speziell vor diesem Ensemble habe ich größte Hochachtung: Ihr Bandleader, der Handchirurg Michael Greulich, hat mir bei meiner früheren Nebentätigkeit als Fußballtorwart nach Sehnenrissen zweimal den linken Ringfinger gerettet. 1000 Dank. Seine symbolische Bedeutung hat das Wort Stuhl als Bezeichnung für ein Machtmöbel: Der Holzstuhl stand früher, wie der Thron, für Eigentum und Herrschaft in Familie und Gesellschaft. Wer nichts zu melden hatte, saß nicht auf einem Stuhl, sondern auf einer Bank. Daher heute das Wort Hinterbänkler für Stuttgarter Bundestagsabgeordnete. Wurde einem Mann der Stuhl vor die Tür gesetzt, war sein Führungsanspruch verwirkt. Dieser schöne Brauch hält sich bis heute. Nicht umsonst heißt im Englischen der Boss aller Bosse Chairman. Karrieren sollte man jedoch nicht überschätzen: „Ein Star ist jemand, der andere überragt, weil er geschickt genug war, auf einen Stuhl zu steigen“, hat der Hollywood-Regisseur Billy Wilder gesagt. Pausenlos sägen Karrieristen an den Stühlen anderer Karrieristen, weshalb viele an ihren Stühlen kleben, wie Seehofer oder Löw. Beliebt sind auch Tritte gegen das Stuhlbein, wie im Duell Aufbruch-Oberstuhlführer Backes vs. Rathaus-Chefstuhlhocker Kuhn. Der Aufbruch-Verein hat Mitglieder unserer ehrenwerten Gesellschaft aufgefordert, bei der Aktion „1000 Stühle“ kurze Vorträge über ihre „emotionale Beziehung“ zu ihrem Lieblingsstuhl zu halten. Das ist nicht nur poetisch und erotisch, sondern auch juristisch äußerst heikel: In unserer frommen, von der Mafia unterwanderten Stadt gilt als einer der beliebtesten Stühle seit jeher der Beichtstuhl. Darüber kannst du als Immobilienhai emotional nicht gar so locker plaudern wie etwa als grüner Baubürgermeister über deinen heiß geliebten Schaukelstuhl. Sonst stehst du – wir Kintopp-Veteranen wissen es – ruckzuck im Fahrstuhl zum Schafott. Der berühmte Clown Grock betrat die Bühne immer mit einer Gitarre und einem Stuhl, den er hinter sich herschleifte. Solche Clownsnummern sind meine emotionale Beziehung zum Stuhl – und der Tücke des Objekts. Im harten, realen Lebenskampf um den Stuhl bin ich schon zufrieden, hin und wieder zur Liege eines einfühlsamen Proktologen vorzudringen. |
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