Bauers Depeschen


Mittwoch, 11. Januar 2017, 1723. Depesche



 



LIEBE GÄSTE,

nach einer kurzen Pause gibt es wieder neue Kolumnentexte. Und auch live geht es weiter: Der Flaneursalon ist am Donnerstag, 9. Februar, zum zweiten Mal im Kabarett der Galgenstricke, in einem schönen Gewölbekeller mitten in der Esslinger Altstadt - diesmal mit Zam Helga, Ella Estrella Tischa und Timo Brunke.

Dann freue ich mich auf die Wiederbelebung des Kleinen Saals im Gustav-Siegle-Haus mit seiner Kronleucher-Kulisse: Flaneursalon am Montag, 20. Februar, mit Stefan Hiss, Marie Louise (voc) & Zura Dzagnidze (g) und Timo Brunke. Ein Heimspiel im Leonhardsviertel. Karten: online EASY TICKET und telefonisch 07 11/ 2 555 555.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



BÄRBELS BÜCKWARE

Ich will nicht gleich von einem Wunder reden, nur weil mich ein Engel mit einer Trommel in eine Gegend namens Mönchfeld führte. Irgendwann musste ich ja an diesen Ort, und der Jahresanfang schien mir die richtige Zeit, ans Ende der Stadt zu fahren.

Mit der Linie 7 über die Prag und Zuffenhausen an die Endstation Mönchfeld. Bei dieser Tour hatte ich, anders als so oft, ein exaktes Ziel, nachdem ich in einer Textilreinigung im Westen, die auch als Postlager dient, ein kleines Paket abgeholt hatte. Zunächst jedoch spazierte ich der Nase nach durch den kleinen Stadtteil von Mühl­hausen und hatte bald den Verdacht, Mönchfeld lebe vom Fischfang. Es gibt dort eine Aal- und eine Hechtstraße, einen Seezungen- und einen Makrelenweg. Welche Köpfe sich das wohl ausgedacht haben.

Der nordöstliche Stadtteil auf dem einstigen Ackerland Mönchfeld, von anfangs 6000 auf heute 2800 Einwohner geschrumpft, entstand erst Ende der fünfziger Jahre. Damals herrschte – wie heute wieder – große Wohnungsnot in der Stadt. Noch lange nach dem Krieg mussten viele Flüchtlinge untergebracht werden. Ob ihnen Adressen wie Makrelen- und Seezungenweg geholfen haben, sich mit ihrer neuen Heimat zu identifizieren, kann ich nicht beurteilen. Schließlich heiße ich Bauer und nicht Fischer.

Vor der Straßenbahnhaltestelle stehen drei Hochhäuser in verschiedenen Farben. In einem davon wohnt seit 1963 Frau Bärbel. Ich habe ihr versprochen, sie in meinem Text nicht anders zu nennen als Frau B. oder Bärbel. Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, was ich gut verstehe: Ich hatte deshalb selbst schon öfter Ärger. Vor meinem Besuch kannte ich Frau B. nicht. Zur Weihnachtszeit hatte sie mir einen Musikanten-Engel von Wendt & Kühn geschickt, Trommler oder Trommlerin: So genau kann man das bei diesen Engeln nicht sagen. Die handgeschnitzten Holzfiguren sind zwar nur spärlich bekleidet, aber außer ein bisschen Po geben sie nichts Intimes preis. Die Firma wurde 1915 im Erzgebirge von Margarete Wendt und Margarete Kühn gegründet, ihre Engel sind weltberühmt. Das Geschenk von Frau B. erhielt ich, nachdem ich berichtet hatte, wie ich auf dem Weihnachtsmarkt vergeblich die Musikanten suchte. Inzwischen haben mich verschiedene Leute aufgeklärt, dass es die Sammelstücke bei Tritschler am Marktplatz und bei Artani in der Eberhardstraße gibt. Die Temperaturunterschiede auf dem Weihnachtsmarkt, hat man mir gesagt, seien für das Holz schädlich.

Frau B., 1938 in Dresden geboren, hatte meinem Trommler einen sehr schönen, handgeschriebenen Brief beigelegt, der mich neugierig machte. Ich rief sie an, ob ich sie besuchen, ob sie mir ein Kapitel deutscher Geschichte erzählen könne, wie es viele Menschen erlebt haben, die heute irgendwo in abgelegenen Stadtteilen leben. Frau B. lädt mich zum Frühstück ein und erzählt: Sie hat Glück, dass ihr Vater in den Kolonialwarenladen ihrer Großeltern in Dippoldiswalde einsteigt und die Familie die Bombardierung Dresdens außerhalb ihrer Heimatstadt erlebt. Bärbel ist damals sieben, und bis heute erinnert sie sich, wie im Februar 1945 Flüchtlinge aus Dresden ankamen: „Sie waren alle ganz schwarz vom Rauch des Feuers und vom Ruß.“

Nach der Schule macht sie eine Schneiderlehre. Gerade mal 17, beschließt sie, aus der DDR „abzuhauen“: „In meiner Kindheit hatten wir die Engelchen nicht“, heißt es in ihrem Brief. „Kein Geld dafür bei drei Kindern. Vater ist im Krieg geblieben.“ 1955 reist sie zu ihrer Großtante nach Stuttgart und arbeitet bei ihr in Vaihingen-Rohr als Hausmädchen. Bald lernt sie ihren Mann kennen, er kommt auch aus Sachsen, arbeitet bei Mahle und wohnt in einem christlichen Männerheim in Obertürkheim. Damals gibt es in der Bundesrepublik noch den „Kuppeleiparagrafen“: Paare können sich nur heimlich in einer Wohnung treffen. 1963 heiraten Frau B. und ihr Mann und beziehen 72 Quadratmeter in einem der gerade eröffneten Hochhäuser in Mönchfeld.

Inzwischen haben die Immobilien, einst Werkswohnungen von Mahle, mehrfach die Besitzer gewechselt. Die Miete im Hochhaus wäre ohne Wohngeld heute nicht zu stemmen. Frau B.s Mann ist in einem Pflegeheim, er leidet an Demenz. Frau B. sagt, dieses Schicksal teile sie mit mehr Menschen in ihrer Umgebung, als man sich denke.

Gut sechzig Engel von Wendt & Kühn bilden das Orchester in ihrer Wohnung. Früher hätten die Holzmusikanten 2,35 D-Mark oder etwas mehr gekostet, im Euro-Zeitalter müsse man das Komma eine Stelle weiter nach rechts verschieben, hat sie mir geschrieben. Noch in den Sechzigerjahren hätten die Engel in der DDR als „Bückware“ gedient – als für den Tauschhandel bestimmte Produkte, nach denen man sich unter den Ladentisch bücken musste. Ihre Engel erhält sie in den Sechzigern nach und nach per Post von einer Freundin aus der DDR, im Tausch gegen Pakete mit Kaffee und Nylonstrümpfen.

Frau B. erzählt, ohne zu klagen. Ihr Leben ist nicht einfach, doch ist sie zufrieden in Mönchfeld: vor der Tür die Straßenbahn und eine Art Park. Zum Einkaufen geht sie in den Nachbarort Freiberg, wo wie in Mönchfeld viele Migranten leben, viele Russen mit eigens für sie eingerichteten Supermärkten. Ins Zentrum fährt sie nicht mehr, nicht mehr wie früher, als sie in den Schaufenstern der Königstraße die Mode studierte – und die Kleider zu Hause „nachschneiderte“.

Zu meinem Musikanten-Engel schrieb mir Frau B.: „Ein Trommler kommt in einem Lied für Weihnachten in Amerika vor – weil er arm ist, kann er für das Kind in der Krippe nur etwas trommeln. Sie kennen es sicher mit Text. Ich nicht, kann kein Englisch.“ Das Lied heißt „Little Drummer Boy“, ich besitze davon umwerfende Versionen von Frank Sinatra, Bob Dylan und der Punkrock-Band Bad Religion. Wenn ich sie das nächste Mal auflege, werden sie mich an Frau B. und Mönchfeld erinnern, und auf einem meiner Lautsprecher wird ein Trommler stehen.



 

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