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Mittwoch, 27. April 2016, 1621. Depesche



 



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LIED DES TAGES



IM REGEN VON LUGINSLAND

Ein Spaziergänger ist kein Historiker, der sich unterwegs die Welt zusammenbastelt, und der Spaziergänger hat nicht immer Glück, wenn er hinausgeht in seine kleine Welt. Es regnet Hunde und Katzen, als ich in Luginsland vor dem Doppelhaus in der Annastraße 6 und 8 stehe. Es ist April und kalt. Mich wärmt meine Gänsehaut.

Auf dem Weg nach Luginsland habe ich nicht die schnelle S-Bahn nach Untertürkheim genommen. Die S-Bahn taugt oft nicht für meine Ausflüge; im engen Stadtverkehr des Kessels katapultiert sie dich von A nach B, und alles ist vorbei, bevor du einen herumfliegenden Gedanken einfangen kannst. Die Straßenbahn der Linie 4 führt durch Ostheim und Gaisburg, durch Wangen und über den Neckar nach Untertürkheim. Auf dieser Strecke ahnt man etwas vom Leben in der Stadt. Dieses Leben ist anders, als viele glauben, die sich vom Mercedes-Stern auf dem Bahnhofsturm und den Shoppingmalls blenden lassen.

Vor dem Untertürkheimer Bahnhof, er sieht aus wie die vergessene Kulisse eines Films für harte Jungs, fährt der Bus der Linie 60 hinauf nach Luginsland, in die Siedlung, die 1911 nach dem Modell der genossenschaftlichen Gartenstädte gegründet wurde. Neun Arbeiter hatten nach dem Umzug der Daimler-Motoren-Gesellschaft von Cannstatt nach Untertürkheim das Fundament für Luginsland gelegt. Die internationale Gartenstadt-Bewegung geht zurück aufs 19. Jahrhundert. Die Häuser von Luginsland mit ihren Gärten in sicherer Entfernung zu den Fabrikschloten dienten nicht nur der Arbeitsmoral bei Daimler und Bosch. Sie waren eine solidarische Errungenschaft der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Das Doppelhaus an der schmalen Gasse, 1920 ohne Bezug auf eine reale Figur Annastraße getauft, ist nicht weit entfernt von der Gaststätte Luginsland, einem stattlichen Anwesen. Solche Ecken, die scheinbar heile Welt einer vergangenen Dörflichkeit, nennt man gern „malerisch“. An der Wand hinter den Pflanzen des Vorgartens ist in der Annastraße 6 ein Erinnerungsschild mit Grammatikfehler angebracht: „In diesem Hause lebte die Familie Schlotterbeck, die am 30. November 1944 zusammen mit sieben anderen Freunden von den Nationalsozialisten brutal ermordet wurden. Sie kämpften für eine Welt der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit . . .“

Es ist das Haus der legendären Stuttgarter Widerstandsgruppe Schlotterbeck. Als ich ankomme, arbeiten im Eingang eine Frau und ein Mann. Ich spreche sie an, fürchte, dass kein Mensch an diesem Samstagnachmittag Lust hat, mit einem Fremden im strömenden Regen zu plaudern. Ich habe Glück. Die Bewohner, Katrin und Aram Heß, sind sehr freundlich und aufgeschlossen. Der Mann spricht leichten Berliner Dialekt. Wir reden, und ich spüre wieder die Gänsehaut: Seine Mutter, erzählt er, war Wilfriede Heß – eine Nichte von Friedrich Schlotterbeck, dem Mann, der als Einziger seiner Familie den Nazi-Terror überlebte. Im Mai 1944 gelang ihm die Flucht in die Schweiz.

Friedrich Schlotterbeck, 1909 in Reutlingen geboren, starb nach einem bewegten Leben am 7. April 1979 in Berlin-Buch, DDR. Seine Eltern, seine Geschwister und seine Braut Else Himmelheber wurden von den Nazis ermordet. Else Himmelheber hat man vor 20 Jahren – gegen den Widerstand der CDU – eine Staffel in der Nähe des Marienplatzes und der Karlshöhe gewidmet. Wie die anderen Antifaschisten war sie in der KPD.

Aram Heß, 50 Jahre alt, in Berlin aufgewachsen, ist heute Verkaufsleiter bei Bosch-Junkers. In diesen Tagen wird er mit seiner Frau das Haus seiner Vorfahren beziehen. Ja, sagt er, auf diesen Tag habe er gewartet, dieser Schritt sei eine Hinwendung an die Geschichte seiner Vorfahren; zuletzt war das Haus vermietet gewesen.

Reiner Zufall, dass ich das Ehepaar Heß treffe. Eigentlich bin ich nach Luginsland gefahren, um mir das Häuschen von Willi Bleicher anzuschauen. Am kommenden Samstag wird bei einer kleinen internen Feier das Stuttgarter Gewerkschaftshaus – es wurde zuletzt lange umgebaut und renoviert – offiziell auf den Namen Willi-Bleicher-Haus getauft. Damit ehrt man den 1981 verstorbenen Gewerkschafter, den wegweisenden schwäbischen IG-Metaller. Bereits 1982 hat man die Kanzleistraße, wo das Gewerkschaftsgebäude steht, in Willi-Bleicher-Straße umgetauft.

Der große Arbeitskampfstratege, Streikführer und charismatische Redner, wie die Schlotterbecks im antifaschistischen Widerstand, war acht Jahre im KZ Buchenwald eingesperrt. In Cannstatt geboren und in Untertürkheim aufgewachsen, wohnte der gelernte Bäcker und spätere Daimler-Arbeiter jahrelang neben den Schlotterbecks in der linken Hälfte des Doppelhauses in der Annastraße. Heute lebt Willi Bleichers Nichte Edeltraud Widmaier in dem Eckhaus mit der Nummer 8; sie trägt Bleichers Erbe weiter, „in bester Erinnerung an Onkel Willi“, sagt sie mir.

Mit dem Neubau des Stuttgarter Gewerkschaftshauses wurde nach den Jahren auf dem Gelände des einstigen Gasthauses Bären am heutigen Züblin-Parkhaus 1930 begonnen. Für den 1. Mai 1933 war die Eröffnung geplant. Einen Tag später stürmten SA-Truppen das Gebäude. In ganz Deutschland zerschlugen die Nazis die Gewerkschaften. Willi Bleicher war nach Hitlers Machtübernahme in die Schweiz und nach Frankreich geflohen. Nach seiner baldigen Rückkehr verhaftete ihn die Gestapo 1936 während der Arbeit auf dem Stuttgarter Daimler-Gelände.

Wenn an diesem Samstag die Geschichte Willi Bleichers, dieser legendären Symbolfigur der Arbeiterbewegung, wieder lebendig wird, veranstaltet die rechtslastige AfD in Stuttgart ihren Bundesparteitag. Daran denke ich, als ich auf dem Rückweg von Luginsland ins Zentrum in Untertürkheim aussteige, um den Friedhof zu besuchen. Erst nach langer Suche finde ich die Gedenkstätte für die Familie Schlotterbeck und ihre Freunde. Elf Grabsteine liegen hinter einer hufeisenförmigen Hecke in der Erde versteckt. Als ich ankomme, regnet es immer noch in Strömen. Nicht deshalb sieht dieser Ort trostlos aus und anders, als ihn die Opfer der Nazis verdient hätten.

Und keiner soll mir kommen und sagen, alles sei längst vorbei.



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