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Mittwoch, 17. Februar 2021, 2258. Depesche



 



STUTTGARTER STADTGESCHICHTE/GEGENWART

am Marktplatz:

BREITLING, NAZIS, JOSEPH SÜß OPPENHEIMER

Zurzeit wird in Stuttgart diskutiert, wie das Breitling-Gebäude am Marktplatz nach dem Ende des Herrenausstatter-Geschäfts genutzt werden soll. Die Mehrheit im Gemeinderat will darin ein Tourismus- und Kommerz-Center einrichten: Weinhandel, "Erlebniswelt" für "Markenbotschafter" (Mercedes, Porsche etc.). Der Wunsch des Forums der Kulturen, in den Räumen das schon lange geforderte Haus der Kulturen unterzubringen, wird wohl ein Wunsch bleiben - wie auch ein Haus des bürgerschaftlichen Engagements, das verschiedene Initiativen vorgeschlagen haben.

Der (grüne) Baubürgermeister und die CDU wollen das Haus der Kulturen auf einem S-21-Gelände hinter dem Bahnhof bauen - in frühestens zehn Jahren.

Die braune Vergangenheit des Breitling-Unternehmens (und die Geschichte des Orts am Marktplatz) tauchen in der Debatte so gut wie nicht auf. Es interessiert mal wieder nicht, was vor uns war, was uns die Stadt in der Gegenwart zu erzählen hat.

Näheres über Breitling findet man in dem (nach wie vor erhältlichen) Buch „Stuttgarter NS-Täter“, herausgegeben von Hermann G. Abmayr. Das Kapitel über den ehemaligen Firmenchef Otto Breitling hat der Tübinger Historiker und Kulturwissenschaftler Martin Ulmer verfasst (es geht um eine ähnliche Karriere wie die von Alfred Breuninger im benachbarten Kaufhaus Breuninger).

Die Spuren des Antisemitismus über Jahrhunderte hinweg vor der eigenen Haustür. Die grüne Bezirksvorsteherin Mitte Veronika Kienzle hat neulich dankenswerterweise auf Instagram darauf aufmerksam gemacht, dass einst an der Stelle des Breitling-Gebäude das Herrenhaus am Marktplatz stand. Darin war die Zelle, in der Joseph Süß Oppenheimer am 31. Januar 1738 das Todesurteil eröffnet wurde. Hingerichtet wurde der jüdische Finanzrat unter Herzog Karl Alexander am 4. Februar 1738 im heutigen Nordbahnhofviertel, seine Leiche sechs Jahre lang in einem Käfig ausgestellt. (Nur dank Aktionen von Künstler*innen weist seit ein paar Jahren eine kleine Tafel an einem Waschküchenhäuschen darauf hin.) Die Nazis haben später mit Veit Harlans Propagandafilm "Jud Süß", einem widerlichen Machwerk, die Morde an den Juden vorangetrieben. - Und hier besagtes (leicht gekürztes) Kapitel aus dem Buch "Stuttgarter NS-Täter":



OTTO BREITLING

Gesinnungstäter und Profiteur des Naziregimes

VON MARTIN ULMER

Der Firmengründer Otto Breitling wurde 1898 in Magstadt bei Böblingen geboren und gehörte der Kriegsgeneration an. Er starb 1974. Dem gelernten Zuschneider gelang eine typisch deutsche Karriere des 20. Jahrhunderts. 1925 hatte Breitling einen kleinen Zuschneiderbetrieb in der Stuttgarter Traubenstraße gegründet. Die Firma vergrößerte sich 1930 zu einem Herrenkonfektionsunternehmen und zog in die Paulinenstraße 51. Auf dem Briefkopf stand „Herrenbekleidung mit feiner Maßschneiderei“.

Der aus dem alten Mittelstand – einer klassischen Klientel der NS-Anhängerschaft kommende Breitling trat im Juni 1931 der NSDAP bei, als die Nationalsozialisten in Stuttgart scharfe Agitation gegen die Republik, die Juden und Linken betrieben, um die Macht zu erobern.3 Am Ende der Weimarer Republik rettete Otto Breitling mit seinem Privatvermögen den „NS-Kurier“, die württembergische Zeitung der Nationalsozialisten, vor der Pfändung und erhielt dafür das Recht, bis 1933 kostenlos Anzeigen zu schalten.

Das Herrenbekleidungsgeschäft war seit Anfang der 1930er-Jahre auf Expansionskurs: Im Jahr 1932 hatte die Firma 50 Beschäftigte und der Gründer ein steuer- pflichtiges Einkommen von 35.000 Reichsmark (RM). 1938 zählte das Haus bereits 70 Mitarbeiter, Breitling selbst verfügte über ein Einkommen von 81.700 RM und ein beachtliches Vermögen.

Es waren in erster Linie politische Ursachen, die zum beschleunigten Aufstieg führten. Aufgrund der engen Beziehungen zur NS-Führungselite und der Inserate im Parteiblatt kamen viele Kunden aus dem völkisch und und national orientierten Milieu. Der Herrenbekleider Breitling war auch Produzent und Anbieter von Uni- formen und prosperierte wegen des deutlich wachsenden Bedarfs des NS-Regimes an SA-, SS- und Militäruniformen. Außerdem konnte sich Breitling 1938 aufgrund des eskalierenden Verfolgungsdrucks gegen die Juden durch „Arisierungen“ bedeutend vergrößern.

Nicht nur nach außen demonstrierte Breitling seine Gesinnung, sondern auch innerhalb der Firma. So atmete die Betriebsordnung von 1934 den Geist völkischer Ideologie: „Im Betrieb arbeiten der Führer des Betriebs und die Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke und zum gemeinen Nutzen von Volk und Staat.“ Nach dieser politisch-semantischen Angleichung an die NS-Ideologie folgten Passagen zur bevorzugten Einstellung von Frontkämpfern und verdienten Angehörigen der Partei, SA und SS sowie die fristlose Kündigung bei „böswilligen Äußerungen und Handlungen wider Volk und Staat“. Wer gegen die neue Ordnung verstieß, wurde wie z. B. der Angestellte Karl Kofler im Dezember 1934 wegen „nationalsozialistischer Unzuverlässigkeit“ entlassen. Breitling und seine Betriebsführer duldeten keinen offenen Widerspruch, wenngleich vereinzelt kommunistisch eingestellte Schneider aus der Zeit vor 1933 weiter beschäftigt worden sind. Schließlich rühmte sich Breitling, „dass ich keine Frauen in meinem Betrieb beschäftige“. Die Uniformen, heißt es in einem Schreiben an einen potenziellen Auftraggeber, würden nur „von geschulten Schneidern vorschriftsmäßig angefertigt, sodass Ihnen die Gewähr geboten ist, etwas Erstklassiges und Strapazierfähiges zu erhalten“. Mit diesem Schreiben wollte er den Auftrag für die Anfertigung von Uniformen für den württembergischen Frontkämpferbund ergattern. Er bezeichnete sich darin selbst als Mitglied und verwies auf den gemeinsamen Kameradschaftsabend.

Wie eng politische, ideologische und kommerzielle Interessen verquickt waren, zeigte sich auch bei Breitlings Initiativen hinsichtlich der „Arisierungen“ 1937/38. Für die nicht jüdische Geschäftswelt war die hohe Zahl jüdischer Kaufleute eine große wirtschaftliche Konkurrenz und in Württemberg waren die Textilproduktion und der Textilhandel bis 1933 neben dem Viehhandel auf den Dörfern und in den Kleinstädten sowie die Privatbanken der wichtigste Wirtschaftszweig der jüdischen Bevölkerung.

Auch in Stuttgart bildeten rund 140 Textilfabriken, Groß- und Einzelhandelshäuser den zentralen Wirtschaftssektor der Juden. Zu ihnen gehörte zum Beispiel der jüdische Herrenausstatter Josef Levy. Der 1887 geborene Levy hatte 1926 in Stuttgart das „Konfektionshaus am Postplatz Josef Levy“ gegründet und es 1930 an eine der besten Adressen, nämlich an den Marktplatz, verlegt. Der Herren- und Knabenbekleider mit dem Firmennamen „Konfektionshaus am Markt“ hatte einen Jahresumsatz von etwa 96.000 RM. Ab 1933 litt das bis dahin florierende Geschäft wegen der Boykott-Politik der Nationalsozialisten unter massiven Umsatzrückgängen und 1937 stand Levy vor dem beruflichen Ruin. Breitling war an der Übernahme der jüdischen Konkurrenz sehr interessiert und nutzte dazu seine guten Verbindungen zur „Arisierungsstelle“ und zu Reichsstatthalter Wilhelm Murr. Diese Kontakte brachten ihn auch mit Josef Levy zusammen. Breitling war jedoch nicht bereit, Levy den Firmenwert (Goodwill) zu bezahlen, weil dies – wie er 1953 behauptete – nicht zulässig gewesen sei. Trotz eines Gesamtwerts von 75.000 RM zahlte Otto Breitling nur 48.000 RM, so die Berufungsspruchkammer 1948, die Breitling deshalb „als Nutznießer“ einstufte.

Mit der „Arisierung“ brachen neue Zeiten im Konfektionshaus am Markt an: Breitling „arisierte“ den Namen seines neuen Geschäfts, investierte und vervielfachte den Umsatz dieses Unternehmens.

Josef Levy flüchtete mit seiner Frau Ende 1938 zu seiner Tochter in die USA. Vom sowieso schon deutlich reduzierten Kaufpreis verlor er auch noch fast alles durch die Reichsfluchtsteuer, Judenvermögens- und Devisenabgabe an den NS-Staat. Aufgrund der „Arisierung“ stellte die amerikanische Militärregierung die Firma Breitling 1947 unter das Kontrollgesetz und bestellte einen Treuhänder, erst im Mai 1950 wurde die Firma aus der Kontrolle entlassen.7 Wegen der „Arisierungen“ verurteilte die Berufungsspruchkammer im April 1948 Breitling als Minderbelasteten zu einer hohen Geldstrafe, zur politischen Bewährung und zu 30 Tage Sonderarbeit. Nachdem er diese Strafen teilweise verbüßt beziehungsweise bezahlt hatte, stufte ihn die Zentralspruchkammer Nord-Württemberg 1949 im Zuge der Generalamnestie als Mitläufer ein mit der Begründung, bei Breitling sei die Pflichtausübung als Bürger eines demokratischen und friedlichen Staates zu erwarten.

Levys Konfektionshaus war nicht das einzige Objekt, auf das Breitling ein Auge warf. Das 1892 gegründete Bekleidungsgeschäft Glass und Wels im Stuttgarter Mittnachtbau (Königstraße/Ecke Büchsenstraße) hatte vor 1933 einen Jahresumsatz von fast einer Million Reichsmark. 1937 geriet es in Gefahr, weil der württembergische Staat im Zusammenspiel mit Reichsstatthalter Wilhelm Murr und dem Staatsrentamt den jüdischen Firmeneigentümern den Mietvertrag gekündigt hatte. Diese hatten daher vor, ihr Geschäft, das ebenfalls unter dem Boykott gelitten hatte, an sogenannte Arier zu vermieten. Doch nun sahen sie sich gezwungen zu verkaufen.

Diese lukrative Firma löste unter Parteigenossen einen regelrechten „Arisierungswettlauf“ aus. Murr versuchte seinen Parteifreund Breitling als Erstbewerber zu platzieren, doch es gab auch in München einflussreiche Kräfte, die alte Parteigenossen der NSDAP zum Zuge kommen lassen wollten. Nachdem Breitling nur über beste Beziehungen, aber nicht über größere Finanzsummen verfügte, wurde auf Drängen von Murr und der Gauwirtschaftskammer eine Kommanditgesellschaft zum Erwerb der Firma Glass und Wels gegründet, in der Breitling sowie die Münchner NSDAP-Unternehmer August Knagge, Heinrich und Gerhard Peitz vertreten waren. Die angesehene Firma Knagge und Peitz bestand bis in die späten 1990er Jahre (...)

Von Breitling sind antisemitische Äußerungen bekanntgeworden, obwohl nach 1945 auch Entlastendes zu seinem judenfreundlichen Verhalten im Spruchkammerverfahren aufgetaucht ist, dessen Glaubwürdigkeit nur schwer einzuschätzen ist. Jedenfalls wirkte sich Breitlings NS-Haltung und Bereicherungsmentalität in den „Arisierungsverfahren“ zulasten der jüdischen Kaufleute aus, die jeweils Restitution beantragten. Wenn man den „Ariseur“ in wissenschaftliche Befunde zu Täterprofilen einordnet, erscheint die Mischung eines Profiteurs und Gesinnungstäters, der seinen Aufstieg zum vermögenden Kaufmann dem Nationalsozialismus zu verdanken hat. Breitlings völkische Überzeugung und Parteiloyalität bereits vor 1933 prädestinierten ihn aus Sicht der regionalen NS-Elite für gezielte Aufträge und „Arisierungen“. Ohne solche politisch-ideologischen Verdienste wäre Breitling nicht zum Zuge gekommen. Seine gute Geschäftsposition konnte er im Verdrängungsklima nach 1945 trotz anfänglicher Schwierigkeiten sichern und weiter entwickeln.

Hier der Link zum Buch, das man auch beim Schmetterling Verlag in Stuttgart bestellen kann: STUTTGARTER NS-TÄTER



 

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