Bauers DepeschenMontag, 23. Dezember 2019, 2162. DepescheVORVERKAUF FLANEURSALON Falls noch ein kleines Weihnachtsgeschenk fehlt: Karten machen Freude. Für den Flaneursalon am Samstag, 7. März, im Stuttgarter Stadtarchiv hat jetzt der Vorverkauf begonnen. Hier ist der Link: KARTEN FLANEURSALON Hört die Signale! DIE MUSIK ZUM TAG Ein schneller, enger Blick zurück LIEBE FREUNDINNEN UND FREUNDE, da schon wieder zwölf Monde vorbei sind, meldet sich im Hirn der Bilanzierungstrieb. Eigentlich eine miese Angewohnheit. Andererseits gibt es sehr viel auf- und abzurechnen mit Blick auf die Zukunft: Schon bald beginnen die zwanziger Jahre. Ein merkwürdiges Gefühl angesichts der braunen Netzwerke im Hier und Jetzt. (Es gibt übrigens ein Buch von Jörg Schweigard mit dem Titel „Stuttgart in den Roaring Twenties“; trotz des Titels kann ich es empfehlen.) Heute aber trotz aller notwendiger Gegenwärtigkeit ein Blick zurück auf 2019 - vielleicht auch als Mutmacher für andere zum Mitmachen. Erfahren habe ich z. B., dass die asozialen Medien nicht nur dafür gut sind, Hass zu verbreiten. Am 6. Mai teilte ich auf Facebook in wenigen Zeilen mit, dass der Vorsitzende des Fördervereins der Stuttgarter Kickers, Steffen Ernle, nicht nur ein maßgeblicher Funktionär der AfD Böblingen sei, sondern auch rassistische, völkische Inhalte verbreite. So verwendete er in einem Text den Begriff „Der große Austausch“, den wir auch als Nazi-Variante „Umvolkung“ kennen. Auch die örtlichen Tageszeitungen griffen nach Holzhammer-Hinweisen das Thema auf, zunächst nur wachsweich. Starke Unterstützung dagegen kam vom kritischen Heidelberger Autor und Sport-Blogger Christian Prechtl, der einen Artikel zum Fall Ernle für die Kontext Wochenzeitung schrieb. Auch bürgerliche Prominenz beschwerte sich über den extrem Rechten bei den Kickers. Wenige Tage später trat er zurück. Einer seiner Vereinskollegen, ein hauptamtlicher Kickers-Funktionär, beklagte daraufhin per Mail an mich „öffentliche Hetzjadgen“ und „vereinsschädigendes Verhalten“. Ernle wurde von den Kickers folgerichtig in Ehren und Würde verabschiedet und – der AfD-Strategie entsprechend – als Opfer dargestellt. Zum Glück gibt es im Verein auch andere Kräfte, die sich, etwa bei der Aufarbeitung der Vereinsvergangenheit, politisch verdient machen. Mein zweites bemerkenswertes Facebook-Kapitel folgte einen Monat später. Bei einer Besichtigung des Stuttgarter Opernhauses am 24. Juni, die ich anlässlich der Diskussion über die Renovierung des Hauses für Bekannte organisiert hatte, erfuhr ich von einer kleinen Anfrage der AfD im Landtag. Die Rechtsnationalisten forderten vom Kunstministerium eine Liste mit den Nationalitäten der KünstlerInnen der Staatstheater. Als ich diesen Vorgang, über den die Medien bis dahin nicht berichtet hatten, einen Tag später mit wenigen Zeilen auf Facebook verbreitete, war die Resonanz so ungewöhnlich groß, dass ich postwendend Freunde anrief, um eine Kundgebung zu organisieren. Die fand nur wenige Tage später, am 29. Juni, im Schlossgarten statt. Ein breites Bündnis – von der Staatsoper bis zu Stuttgart gegen Rechts – unterstützte die Aktion, die ausdrücklich dazu diente, über den Kulturkampf der sogenannten Neuen Rechten aufzuklären. Das war schwierig genug, weil viele – auch die örtliche Presse – unsere Aktion ausschließlich als Protest gegen die AfD-Anfrage sahen. Etliche Abwiegler kritisierten, wir seien auf eine „Provokation“ der Partei hereingefallen – ohne sich mit den Wortbeiträgen und den Informationen auf der Kundgebung zu beschäftigen (Hans D. Christ vom Württembergischen Kunstverein hielt die Hauptrede). Obwohl ich aus reinen Zeitgründen die Aktion zum großen Teil allein organisiert hatte (Tom Adler von der Linken kümmerte sich um Behörden und Gelände), meldete sich im Vorhinein kein Stuttgarter Journalist bei mir, um sich über Sinn und Zweck der Aktion zu informieren. Entsprechend die Ankündigung. Ärgerlich daran: Die AfD-Anfrage wäre ein guter Anlass gewesen, endlich das Thema „Kulturkampf von rechts“ vor der eigenen Haustür zu beleuchten. Sichtbar wurde stattdessen, wie viel Ahnungslosigkeit gegenüber den Strategien der Rechten und der faschistischen Bedrohung herrscht. Dank der (auch künstlerischen) Unterstützung der Staatstheater (Oper, Schauspiel) zog das Thema dennoch Kreise, nicht nur in der Republik – auch die New York Times und die Financial Times London berichteten aus Stuttgart. Überhaupt gab es sehr viel Solidarität. (Dank an die Sängerin Fola Dada und ihre Pianistin Gee Hye Lee) Solche Unternehmungen sind zwar nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein – ich erwähne sie aber, weil da tatsächlich mal mehr passierte, als ich gehofft hatte. Und es sich letztendlich lohnt, etwas zu tun. Es wäre falsch und frustrierend, beim Tun immer nur an Erfolge zu denken. Einfach ran - und der Rest ergibt sich. Das trifft auch auf die Stuttgarter Kundgebung/Demo „Für eine Welt, in der niemand fliehen muss“ zu. Am 7. Dezember fand sie statt, organisiert vom Offenen Treffen gegen Krieg und Militarisierung (OTKM), unterstützt von Initiativen, Gewerkschaften usw. (unsereiner half beim Organisieren). Einer unserer Redner war der Frankfurter Arzt und Aktivist Dr. Michael Wilk, der in Syrien regelmäßig Kriegsopfer behandelt. Nach unserer Aktion wanderten – vor allem dank großzügiger Privatspenden – in kurzer Zeit 15.000 Euro aus Stuttgart auf das Konto von Michael Wilks Syrien-Hilfe. Und noch ganz herzlichen Dank an die Band No Sports: Trotz miesen Wetters brachte sie die Leute herzerfrischend in Bewegung. Gut entwickelt hat sich auch die seit zehn Jahren stattfindende Gedenk-Veranstaltung am 9. November, der Pogromnacht, auf dem Gelände der von Nazi-Deutschen zerstörten Cannstatter Synagoge. Dieses Jahr kam die 95-jährige Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano mit ihrem Rap-Duo Microphone Mafia zum Lesen und Musizieren nach Cannstatt. Ein berührender und informativer Abend. (Organisiert wird die Erinnerung an den Holocaust von einem kleinen linken Bündnis, es hatte mich dieses Jahr zum zweiten Mal zum Moderieren eingeladen. War mir eine Ehre.) Die kleinen Erfolge erwähne ich hier als Beweise dafür, dass nach Protestaktionen nicht immer bloß eingerollte Fahnen und zerfledderte Flyer zurückbleiben. Und ich schreibe das alles auf, um mich auch selber zu erinnern. Es ist ja guter Brauch bei uns, schnell zu vergessen. Das Jahr ist noch nicht um, für mich war es Tag für Tag ein spezielles: die ersten zwölf Monde als Nichtmehrangestellter, meine erste volle Runde als Rentenbezieher. Zu tun gab es genug, und das ist auch richtig so: Ich denke, es ist Pflicht, das zu machen, was man kann. Irgendwann könnte jemand fragen: Was hast du eigentlich gemacht? Und die Antwort sollte nicht lauten: bisschen Fußball geschaut. Etliche Veranstaltungen waren zu organisieren, zu arrangieren. Sechs Flaneursalons, kleine und größere, darunter die schöne Show im Stuttgarter Neckarhafen und der Theaterhaus-Abend im November. Dazwischen immer wieder Demos (Mietenwahnsinn!) und die Show anlässlich des irren Jubiläums „10 Jahre Montagsdemo gegen Stuttgart 21“ mit großartigen KünstlerInnen im Theaterhaus: Uta Köbernick, Christine Prayon, Volker Lösch & Bürgerchor, die Bans Foaie Verde Timo Brunke – und Max Uthoff aus der Satire-Show „Die Anstalt“. Gut, dass wenigstens am Schluss meiner Zeilen noch das Wort „Satire“ auftaucht. Der ganze politische Krempel könnte dazu führen, den Humor zu verlieren. Das wäre schrecklich – und das Ende aller Bemühungen. In diesem Sinne wünsche ich allen - ganz speziell der Leserin oder dem Leser in diesem Moment hier auf dieser Seite - entspannte Feiertage, wohl wissend, dass Weihnachten oft ziemlich komisch enden kann. |
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