Bauers DepeschenSonntag, 13. Oktober 2019, 2138. DepescheHört die Signale! Ein Lied zum Tag Aus gegebenem Anlass ein Text von 2017 (ich habe ihn beim Flaneursalon in Urbach vorgetragen, eingebettet in entsprechende Musik): KOSCHER Wieder mal dient mir der Zufall als Fremdenführer in der eigenen Stadt. Weil ich für einen Ausflug eine Fahrkarte brauche, gehe ich zum Bahnhof. Hätte ich mir das Billett, wie üblich, online mit dem Taschentelefon besorgt, wäre mir etwas entgangen. Lange beobachte ich fasziniert, wie die Leute in der Bahnhofshalle achtlos über den Ruhmesstern für Carl Laemmle hasten. Nach dem Vorbild von Hollywoods Walk of Fame hat man dem legendären Filmproduzenten 2017 bei uns ein Zeichen gesetzt: Neben dem Fünfzack mit seinem Namen wirbt ein Plakat auf eine Ausstellung im Haus der Geschichte: „Carl Laemmle presents – Ein jüdischer Schwabe erfindet Hollywood“. Carl Laemmle wird 1867 im oberschwäbischen Laupheim geboren. Mit 17 wandert er in die USA aus, 1912 gründet er in Los Angeles die Universal Studios und steigt zu einem der großen Pioniere des Hollywood-Films auf. Berühmte Landsleute der Vergangenheit waren Anfang 2017 stark präsent in der Stadt: Das Landesmuseum präsentierte parallel zur Laemmle-Schau die Ausstellung „Die Schwaben. Zwischen Mythos und Marke“. Die krampfhafte Suche nach einem Regionalcharakter, einer mehr als fragwürdigen Identität, hat mal der Tübinger Humorist Uli Keuler auf den Punkt gebracht. Gefragt, wie er den „typischen Schwaben“ beschreiben würde, sagte er: „Häufige Merkmale sind, dass er zwei Augen hat, eine Nase, einen Mund, zwei Ohren, dann unterschiedliche Geschlechtsmerkmale. Genaueres kann ich nicht sagen.“ Carl Laemmle (ursprünglich Karl Lämmle) blieb Laupheim zeitlebens nicht nur emotional, sondern auch mit großzügigen Spenden verbunden. In der Nazi-Diktatur setzte er sich für die Juden seiner Heimat ein und bewahrte viele vor der Ermordung. Es war kurz vor den Holocaust-Gedenkfeiern, am 27. Januar, dem Befreiungstag von Auschwitz, als ich an Carl Laemmles Stern im Bahnhof stand und mir Gedanken machte. Erfahrungsgemäß werden uns – und vor allem jungen Menschen – die Ausmaße des Nazi-Terrors erst durch die Konfrontation mit den bis heute sichtbaren Tatorten bewusst. Wenn die Verbrechen vor unseren Augen auftauchen, weil wir die Schauplätze der Mörder sehen, die Häuser, die Fenster von Wohnungen, hinten denen Menschen lebten, bis die Nazi-Schergen kamen. Die Stolpersteine auf den Gehwegen vor den ehemaligen Wohnungen ermordeter Juden machen die Geschichte intensiver erfahrbar als Politikerreden. Es sind die allgegenwärtigen Orte des Grauens, die eine emotionale Nähe zum Unfassbaren herstellen – und den Blick auf die Machenschaften der Rechten in der Gegenwart öffnen. Eine Gegenwart, in der Nationalisten und Rassisten, Völkische und Nazis einem neuen faschistischen Netzwerk vor unserer Haustür im Landtag und Gemeinderat als parlamentarischer Arm dienen. Wir erleben die Zusammenhänge von Vergangenheit und Gegenwart am Stuttgarter Nordbahnhof, am Galgenbuckel unter den Eisenbahnerhochhäusern, wo der jüdischen Finanzrat Joseph Süß Oppenheimer 1738 nach einem antisemitischen Schauprozess 1738 hingerichtet und seine Leiche sechs Jahre in einem Käfig ausgestellt wurde. Die Nazis missbrauchten die Figur Oppenheimer später für ihren berüchtigten Propagandafilm „Jud Süß“. Und ich kann nur raten, den Stuttgarter „Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz“ unterhalb der oberen Königstraße zu besuchen: Hier wird deutlich, was der Asphalt in den politischen Köpfen einer Stadt anrichtet, die dem Bau- und Immobilienwahn verfallen ist. Nur wenige hundert Meter vom Galgenbuckel im Nordbahnhof-Viertel entfernt, befindet sich seit 2006 das Denkmal Zeichen der Erinnerung an dem Ort, wo mehr als 2600 Juden, Roma und Sinti mit Güterzügen der Reichsbahn in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurden. Auch diese Erinnerungsstätte ist bürgerlichem Engagement zu verdanken, vor allem dem Architekten Roland Ostertag, Bei diesem Blick auf die Geschichte ist es erbärmlich, dass die einstige Stuttgarter Gestapo-Zentrale, das Hotel Silber am Charlottenplatz, trotz des hartnäckigen Bürgerengagements erst Ende 2018 als Gedenk- und Lernort eröffnet wird. Dieses Gefängnis, in dem deutsche Beamten Menschen folterten und ermordeten, wo Angehörige des Hitler-Attentäters Georg Elser verhört wurden, steht in der Nachbarschaft des Unternehmens Breuninger. Dessen einstiger Chef Alfred Breuninger saß als Nazi-Funktionär im Stuttgarter Rathaus und profitierte auch wirtschaftlich vom Hitler-Regime. In seinem „arisierten“ Haus beschäftigte er Zwangsarbeiter und ließ Wehrmachtsuniformen produzieren. Stadtpolitiker, die heute Gedenkreden halten, konnten sich nicht dazu durchringen, der Auseinandersetzung mit dem Faschismus von gestern und heute das komplette Gebäude des Hotels Silbers zu widmen. Ein Stockwerk, einst Zentrum der Gestapo-Verbrechen, wurde – auch mit den Stimmen der Grünen – an Breuninger vermietet. Ich empfehle einen Blick auf die Webseite von Breuninger: ein Lehrstück, wie Geschichte und Mittäterschaft vertuscht werden. Aus gegebenem Anlass gehe ich mit ein paar Freunden in das Restaurant Teamim in der Synagoge im Hospitalviertel. Für den Besuch im Restaurant muss man sich anmelden, der Sicherheitsdienst prüft bei der Ankunft in der Synagoge die Personalausweise. Im Lokal herrscht wohltuende Gastfreundschaft. Die Brüder Aurel und Richard Jäger bereiten koscheres Essen zu. Die Zutaten kommen aus Frankreich und Israel. Wir essen Gemüsesuppe und Couscous. Jetzt erst fällt mir auf, dass ich in Stuttgart fast keine Juden in Stuttgart und nehme mir vor, bald wieder zu kommen. Die heutige Synagoge wurde am 13. Mai 1952 eingeweiht. Auch die erste Stuttgarter Synagoge, 1861 eröffnet, stand an der Hospitalstraße. Beim Novemberpogrom 1938 brannte der Nazi-Mob unter dem Gejohle zahlreicher Schaulustiger aus der Stadt das Haus nieder. Es wurde vollkommen zerstört, wie auch die Synagoge in Cannstatt, die nicht mehr aufgebaut wurde. Heute erinnert an das jüdische Gotteshaus an der Cannstatter König-Karl-Straße eine missglückte Gedenkstätte mit unverständlichen, peinlich gestalteten Symbolen neben einem Parkplatz. Nach Kriegsende leben von einst 5000 jüdischen Mitbürgern nur noch 24 in Stuttgart. Nur aus glücklichen Zufällen wurden sie nicht deportiert oder konnten in Verstecken überleben. Schon bald aber, bis zum Sommer 1946, kamen unerwartet viele nach Stuttgart: Die US-Besatzungszone wird zentrale Aufnahmestelle für Juden aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Die Amerikaner führen diese Flüchtlinge als „Displaced Persons“ – Heimatlose, Menschen am falschen Platz. Von 1946 bis 1948 werden in der Reinsburgstraße im Westen der Stadt zwei jüdische Zentren mit Betraum eingerichtet, provisorische Synagogen. Am 29. März 1946 stürmen mehr als 200 Stuttgarter Schutzpolizisten und Kriminalbeamte das Camp im Westen der Stadt, um nach Schwarzmarktwaren zu suchen. Bei der Razzia beginnen deutsche Polizisten zu schießen. Der polnische Jude Samuel Danziger geht zu Boden. Er hat Auschwitz überlebt und wie durch ein Wunder einen Tag vor der Polizeiaktion seine Frau und seine zwei Töchter in der Reinsburgstraße wiedergefunden. Als die Amerikaner die Razzia abbrechen, ist es zu spät. Der Schuss aus einer deutschen Polizeiwaffe hat Samuel Danziger in den Kopf getroffen. Er ist tot. Der Schuldige wird nie ermittelt, der Vorfall in der Stuttgarter Geschichtsschreibung jahrzehntelang verschwiegen. Geschichte ist nicht Vergangenheit, hat James Baldwin gesagt, Geschichte ist Gegenwart. |
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