Bauers Depeschen


Dienstag, 04. Juni 2019, 2096. Depesche

 

Hört die Signale!

DAS LIED ZUM TAG



Am 15. Mai ist der Dichter und Satiriker Wiglaf Droste im Alter von 57 Jahren gestorben. Im Sommer 2015 moderierte er den 3. Flaneursalon am Fluss im Stuttgarter Neckarhafen: bedichtete und besang uns mit viel Charme und Witz. Aufgrund seiner Freundschaft mit dem Koch, Autor und Musiker Vincent Klink, mit dem er die Zeitschrift „Häuptling eigener Herd“ herausgab, war er oft in Stuttgart. Neulich, als ich darüber nachdachte, welche Erinnerung ich Wiglaf beim bevorstehenden Flaneursalon am Fluss am 6. Juli widmen könnte, fiel mir wieder ein, dass er 2008 in einem Stuttgart-Heft von "Merian" die tiefer gelegte Stadt in spe porträtiert hatte. Daran erinnerte ich mich, weil ich damals bei der Präsentation des Magazins auf seine Bitte den Beitrag vortrug; er hatte keine Zeit, nach Stuttgart zu kommen. Hier der Text:



WO DAS GELD WÜTET

Von Wiglaf Droste

Das Böse ist gefräßig und will immer noch mehr; Stuttgart will noch "stuttgarter" werden. Wer in den Stuttgarter Kessel eintritt, erkennt sofort, dass Architektur und Strafe ein und dasselbe sind. Das Auge erblickt Verbrechen, die auch die lebhafteste Städtebauersadistenphantasie sich nicht ausmalen könnte. Wer nach Stuttgart kommt und bei Groschen ist, lässt jede Hoffnung fahren. Profaner und trostferner als Stuttgart geht nicht.

Mangel an Geld ist nicht der Grund; Geld ist vorhanden, geschmackabweisendes und zuverlässig schönheitsresistentes Geld. Das wird in Automobile gesteckt, in Ellenbogen mit Allradantrieb. In Stuttgart braucht man keinen Gedanken, um jemand zu sein; man muss nur haben, dann ist man. Wenn so ein Hat's-zu-was-gebracht- Stuttgarter den Mund aufmacht, verdorrt dem Menschen das Trommelfell. Denn der Wohlstandsstuttgarter beherrscht die abgefeimteste, hinterhältigste Art des Protzens: das ProPro, das protestantische Protzen. In Stuttgart protzt man mit Bescheidenheit. Hier wütet das Geld, aber es wütet verschlagen und verdruckst.

Deshalb geht der Stuttgarter auch ständig in den Keller: Da ist es so heimelig heimlich. Es wundert nicht, dass Stuttgart noch einmal gebaut werden soll, unterirdisch, kryptisch, verborgen. "Stuttgart 21" heißt das Projekt; das klingt zwar wie "Creme 21", ist aber sinnreich. Ganz Stuttgart kommt unter die Erde.Was für eine schöne Idee: Stuttgart wird eingekellert. Auto-Stuttgart fährt 50 Meter unter der Erdoberfläche auf einer Carrera-Bahn und simuliert sich große Welt, und niemand sonst muss es sehen oder erdulden. Der Hochsicherheitsklotz Stuttgart-Stammheim wird, mitsamt seinem Zwilling, der Hanns-Martin-Schleyer-Halle, tief verbuddelt und beleidigt kein Auge mehr, keinen Geist. Der SWR, ohnehin ein Bunker, wird tiefer gelegt und verschwindet vom Antlitz der Welt, das sich mit einem erleichterten Lächeln bedankt. Die Peinlichkeiten, die im Gottlieb-Daimler-Stadion sich vollziehen, vollziehen sich weiter, aber niemand, der das nicht möchte, wird ihrer ansichtig. Denn Stuttgart und die Stuttgarter finden in den Erdtiefen außerhalb der Öffentlichkeit statt. Und nähern sich damit der Erträglichkeit.

Stille wird walten, wenn erst der Stuttgarter Kessel final versenkt wurde. Niemanden wird man mehr "Stuurgitt" sagen hören - die Stuttgarter nennen ihr Kaff "Stuurgitt", so wie die Nürnberger das ihre "Nämmbäch" nennen, und dann wundern sie sich, dass es dort auch genau so ist. Der Kehrwochenterrorismus, dieses verbiesterte schwäbische Land- und Standrecht, gegen das die Aktivitäten der RAF ein laues Lüftchen im Winde waren, ist mitsamt seinen schrappigen, hexenwarzigen Verfechterinnen in den Orkus abgerauscht. Allein die Mineralbäder sind noch da, in deren prickelnden Wassern die wenigen überirdisch Verbliebenen sich erquicken.

Auf den Stuttgarter Hügeln aber wächst Wein; kein scheußlicher, stickstoffgedüngter Trollingerkrempel, sondern richtiger Wein - Trauben, wie der Sommelier, Winzer,Weinhändler und Weinautor Bernd Kreis sie ökologisch anbaut: klein, bodengesättigt und gehaltvoll, so dass der größte von allen Genießern, Gevatter Fuchs, sich die Ehre gibt und lässig herbeigeschnürt kommt, sich unter den Rebstock legt und die besten, die süßesten Trauben frisst mit wonnigem Grinsen. Das ist keine Fabel, das ist wahr, ich habe es mit eigenen Augen gesehen und möchte mich noch immer dazulegen.

Auch die Wielandshöhe gibt es noch; hier befehligt General Vincent Klink seine Küchentruppen, er reitet auf einem Elefanten aus der Wilhelma, dem Stuttgarter Zoo. Elisabeth Klink rauscht wie ein Viermaster durchs Lokal, und Maître Alexander Häffner legt eine gelungene Verbindung aus Würde und Freundlichkeit an den Tag, in der die Freundlichkeit am Ende die Nase vorn hat. An einem schönen Erkertisch sitzt Joe Bauer von den Stuttgarter Nachrichten, ein Mann, der über Stuttgart all das weiß, was die Stuttgarter nie über sich und ihre Stadt wissen wollten. Der Verleger und Psychologe Wulf Bertram ist bei ihm, auch ich geselle mich dazu, und als die Vorspeise kommt, notiere ich im Geiste: "Schreib das auf, Quiche."

Alles, was einmal dummstolz Stuttgart hieß und Stuttgart war und mit seinem Geldhahn, aus dem Mittelmaß und Wahn sich ergossen, die Menschheit quälte, hat seinen Platz auf der Welt gefunden: Stuttgart 21.Wir sind zufrieden und dankbar. Kein Mord war nötig, kein Massaker. Stuttgart und die Stuttgarter leben; was aber die Hauptsache daran ist: Sie tun es unsichtbar und schalldicht verschluckt. Verstehen Sie jetzt Bahnhof?

(Copyright Merian)

 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·