Bauers Depeschen


Montag, 19. November 2018, 2034. Depesche



Es gibt noch Karten:

FLANEURSALON IM SCHLESINGER

Der traditionelle Dezember-Flaneursalon: Stefan Hiss, Eva Leticia Padilla und ihr Gitarrist spielen/singen ihre Lieder - und auch hinreißende Duette. Unsereins liest kleine Geschichten. Durch den Abend führt der Wortartist Timo Brunke. Am Dienstag, 11. 12., im schönen Gasthaus Schlesinger Int. Ein paar Exemplare von „Im Staub von Stuttgart“ liegen auch bereit - und werden signiert. Einlass 18 Uhr. Essen bis 19.30 Uhr. Beginn 20 Uhr. (Reservierungen im Lokal Mo - Sa ab 18 Uhr)



Hört die Signale!

DAS LIED ZUM TAG



StN-Kolumne (hier mit Ergänzungen)

AFFENWERNER

Es war Sonntag und Zeit, Gustav zu besuchen, schon weil ich keine Lust auf einen ausgedehnten Spaziergang hatte. Im rauen November musst du dir nahe Ziele stecken, willst du nicht früher hinüber sein als das Restjahr.

Gustav logiert in meiner Nachbarschaft im Süden. Unter seinem Allerweltsnamen Gustav Friedrich Werner ist er nicht sonderlich bekannt. Dennoch ist es nicht schwer, ihn zu finden, auch wenn mich seine Adresse zunächst etwas irritiert: Er logiert in Abteilung 7, Reihe 19, Nummer 5. Als ich ihn aufgespürt habe, sehe ich: kein übler Platz auf dem Fangelsbachfriedhof. Diese Ruhestätte sticht aus dem Gräberwald heraus: ein bescheidener, waagrecht ins Gras gebetteter Stein. Aufschrift in Großbuchstaben: „Gustav Werner genannt Affenwerner 1809 – 1870 Besitzer eines Zoos in Stuttgart“.

Affenwerner war eine große Nummer in der Stadt. Seine Geschichte findet man in Zeitungsarchiven und Büchern. Kein Zufall, dass ich ihn 2018 besuche. Die Ziffer Acht hat in diesem Jahr Bedeutung. Historiker ziehen die rote Linie der deutschen Revolutionen von 1848 und 1918 über die Revolte von 1968 bis hin zu den aufwühlenden Shows des Flaneursalons anno 2018.

Im Lärm und Gestank einer Stadt ist heute ein Friedhof als ein Ort der Stille wichtiger denn je. Deshalb wäre es nicht gerade sensibel, würde ich an Gustavs Grab den Gesang unserer aufständischen Ahnen intonieren: „Hecker, hoch! Dein Nam’ erschalle / An dem ganzen deutschen Rhein! / Deine Treue, ja dein Auge / Flößt uns all Vertrauen ein. / Hecker, der als deutscher Mann / Für die Freiheit sterben kann.“

Dennoch schade, dass ich mich nicht zu singen traue. Selbst angesichts eines lausigen Barden wie mir hätte Affenwerner seine Freude an der Hymne auf den badischen Radikaldemokraten Friedrich Hecker.

Gustav Werner, in Stuttgart geboren, übernimmt acht Jahre vor der 48er-Revolution auf dem Gelände des heutigen Hotels Royal in der Sophienstraße die Gaststätte seines Vaters, des „Cafetiers“ Immanuel Werner.

Gustav hat einen großen Garten und ein noch größeres Herz für Tiere. Er eröffnet Stuttgarts ersten Zoo präsentiert neben exotischen Vögeln bald auch Löwen, Bären, Leoparden, Hyänen – und Affen.

Vor Publikum glänzt der Gastwirt als wagemutiger Dompteur, was nicht immer gut endet. Im Dezember 1865 berichtet die "Allgemeine Illustrirte Zeitung" unter der Rubrik „Verbrechen und Unglücke“:

„Gustav Werner (vulgo Affen-Werner) in Stuttgart, welcher aus eigenen Mitteln einen zoologischen Garten unterhält, hatte das Unglück, bei einem Besuch in dem Käfig des Löwen, den er über sich springen ließ, umgeworfen und, am Boden liegend, von demselben gepackt zu werden. Er liegt schwer darnieder. Schon im verflossenen Sommer hat ihn derselbe Löwe gefährlich verletzt, und er musste eine längere Kur in Wildbad gebrauchen.“ – Der Löwe hieß übrigens Said – und hätte dank unseres revolutionären Gemeinderats heute Auftrittsverbot in Zirkussen. Weniger mutig sind dieselben Rathaus-Herrschaften, wenn es darum geht, die Raubtiernummern der Immobilienhaie in der Stadt zu verbieten.

Unser Gustav unternimmt Stadtspaziergängen, begleitet von einem gezähmten Fischotter. Seine demokratische Haltung beweist er in den Unruhen des 19. Jahrhunderts mit politischer Raffinesse: Er bringt seinen Papageien bei, den Schlachtruf der Revoluzzer zu krächzen: „Hecker, hoch! Hecker, hoch“ Die Regimentsmusiker in der Rotebühlkaserne erhalten deshalb den Befehl, einen Umweg zu ihren Konzerten auf dem Schlossplatz einzuschlagen. Und aus Furcht vor Affenwerners Papageien-Propaganda wird allen Soldaten der Besuch seiner Gaststätte verboten.

Der Gastwirt erzürnt so lange die Obrigkeit, bis man ihn zu einer Kerkerstrafe auf dem berüchtigten Hohenasperg verurteilt. Zum Glück funktioniert damals die soziale Vernetzung: Einer von Affenwerners höfischen Stammgästen setzt bei König Wilhelm I. eine Amnestie für Stuttgarts beliebtesten schrägen Vogel durch.

Die Revolution ging bekanntlich schief. Friedrich Hecker setzte sich in die USA ab und kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg als Offizier deutscher Freiwilligentruppen für Präsident Lincoln gegen die Sklaverei. 1881 starb er in seiner neuen Heimat.

Affenwerner wird nach seinem Tod auf dem Fangelsbachfriedhof begraben. Sein Sohn Emil verlagert den Zoo für ein paar Jahre in den Garten der Gaststätte Schwanen im Stadtteil Berg. Dann kauft der Zimmermeister Johannes Nill die Tiere und bringt sie in die selbst gebauten Käfigen seines neuen Zoos an der heutigen Azenbergstraße. Hier betreibt er auch seine „Restauration zum Hirschgarten“, seinerzeit eines der beliebtesten Ausflugslokale Stuttgarts.

Nach Beschwerden der Nachbarn wegen Geruchs- und Lärmbelästigung verkauft er 1906 seine Grundstücke für eine Million Mark an die Stadt. Die Tiere gehen an neue Zoos an der Doggenburg und in Tübingen.

Es ist dunkel geworden an meinem Novembersonntag auf dem Fangelsbachfriedhof. Weit und breit kein Mensch. Plötzlich vernehme ich eine Stimme aus Affenwerners Grab – und dann singen wir zum Abschied gemeinsam das Heckerlied: „Schmiert die Guillotine / Mit Tyrannenfett! / Schmeißt die Konkubine / Aus des Fürsten Bett! / Ja, dreiunddreißig Jahre / Währt die Knechtschaft schon / Nieder mit den Hunden / Von der Reaktion!“

Und als wir so singen und zwischen den Gräbern tanzen, kann ich sie hören: Alle Papageien auf den Dächern und Bäumen der Stadt stimmen mit ein.



 

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