Bauers Depeschen


Donnerstag, 28. Dezember 2017, 1896. Depesche



 



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Aus dieser Depesche habe ich doch noch eine StN-Kolumne gemacht:

NICHTS NEUES

Reden wir zu Beginn vom Anfang. Beispielsweise in berühmten Romanen. Nehmen wir Samuel Becketts ersten Satz in „Murphy“: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“ Oder Rafael Sabatinis Einstieg in „Scaramouche“: „Er wurde geboren mit der Gabe des Lachens und dem Wissen, dass die Welt verrückt war.“

Ich habe diese Zeilen gerade nur erwähnt, weil mir wieder mal kein erster Satz für eine Kolumne einfiel, während vor meinem Fenster keine Sonne schien, nicht mal auf nichts Neues.

Es war am Nachmittag des 24. Dezember, als ich mit der S-Bahn hinausfuhr nach Esslingen ohne irgendeinen vernünftigen Grund, nach Esslingen zu fahren. Womöglich trieb mich die Furcht vor dem Gedanken, mehr tun zu müssen als nichts, solange ich noch die Wahl habe. Mir einzugestehen, dass sich schuldig macht, wer bei allem nur zuschaut und fortgeht, ohne was dagegen zu tun.

Vielleicht stieg ich in die S-Bahn in der Euphorie meines frisch angelesenen Wissens, wonach die Welt verrückt ist, was woanders noch eindrucksvoller zu erleben war als zu Hause, wo die Sonne nicht mal auf nichts Neues schien. Leider ist die S-Bahn so schnell in Esslingen, dass du unterwegs kaum über den ersten Satz eines Buchs hinauskommst.

Er war fast schon Heiliger Abend in Esslingen, als ich ankam, ziemlich düster, und in der Stadt feierten sie noch immer den „Heiligen Vormittag“. Nie zuvor hatte ich von diesem Brauch gehört und wunderte mich, als ich in der mittelalterlichen Kulisse der Stadt auf einige Stände im Freien mit fröhlich trinkenden Menschen stieß. Man sagte mir, diese Gelage seien Sitte, seit vor Jahrzehnten bei einem morgendlichen Umtrunk in einem Wirtshaus einige Männer beschlossen hätten, Heiligabend in Zukunft nicht mehr nüchtern zu ertragen. Im Übrigen sei das große Fest längst vorbei. Was ich sähe, seien nur noch die Reste des feuchten Treibens. Die Esslinger, klärte mich einer auf, seien die wahren Erfinder des „Heiligen Vormittags“, an dem Einheimische und Heimkehrer sich versammelten und zusammenfänden. Andere Städte mit ähnlichen Ritualen seien nur Epigonen.

Ich ging eine Weile in der Stadt herum, am Neckar und seinen Kanälen entlang, sah einem Wasserrad zu, wie es sich drehte, um Strom zu produzieren, und ich passte auf, nicht über die leeren Flaschen und Gläser auf der Straße zu stolpern, die bereits fleißig herumschwirrende Frauen und Männer mit Besen und Kutterschaufeln noch nicht beseitigt hatten. Es waren allerdings nicht viele Flaschen, kaum erwähnenswert verglichen mit den Stuttgart Flaschen.

Nach einer Weile fiel mir ein, dass auch wir früher regelmäßig Heilige Vormittage gefeiert hatten, ohne sie je so genannt und uns der Öffentlichkeit unter freiem Himmel gestellt zu haben. Kaum zurück von meinem Ausflug nach Esslingen, schreckte mich im Internet die Meldung auf, am Vormittag des Heiligen Abends habe es schwere Krawalle gegeben. Polizisten hätten Partyhüpfer mit Schlagstöcken und Pfefferspray bearbeitet, nachdem man sie, die Polizisten, wegen einer Personenkontrolle mit gefüllten (!) Bechern beworfen habe.

Bei näherem Hinsehen ging es in diesem Bericht zu meiner Erleichterung nicht um den „Heiligen Vormittag“ von Esslingen, sondern um den „Heiligen Morgen“ in Reutlingen, wo noch nie was heilig war.

Die Moral von der Geschichte kann nur lauten, in Zukunft heilige vorabendliche Heiligabendaktionen zu meiden. Dafür spricht schon die Tatsache, dass ich in einer Art heiligen Deliriums nach Esslingen gefahren war. Genauso zufällig hätte ich nach Reutlingen reisen und mit gebrochener Nase und versengten Augen im Knast landen können. Was gäbe es in Reutlingen schon Besseres zu tun.

Dass die Welt verrückt ist, habe ich eingangs schon erwähnt. Ein weiterer Beweis dafür ist, dass ich am zweiten Weihnachtstag in ein Kino ging, obwohl ich den Film, der dort lief, gar nicht sehen wollte. Der Film heißt „Weit“ und schildert die Weltreise eines Freiburger Tramper-­Pärchens. Wir erfahren in diesem Film, dass es überall auf der Welt wundervolle Landschaften und wundervolle Menschen gibt und in Pakistan nicht nur Terroristen. Über die Welt erfahren wir nichts.

Der Film lief in einem der letzten Stuttgarter Vorstadtkinos. Die Kinothek in Obertürkheim, in der Nähe des Bahnhofs kurz vor der Grenze nach Esslingen, ist ein wundervolles Weltweihnachtslichtspieltheater, das zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert ist. Es gibt gemütliche Sitze mit einem Tischbrett für Getränke und Tüten und kleine Schirmlampen, die während der Werbespots gedimmt und während des Hauptfilms ausgeschaltet werden. Am Tresen im Saal lagern diese legendäre Schokolinsen mit Pfefferminzgeschmack. Man geht in dieses Haus nicht nur wegen eines Films. Man geht ins Kino – und erweist einer Institution seine Referenz. So jedenfalls geht es mir. Im kommenden Jahr wird die Obertürkheimer Kinothek, ein Familienbetrieb mit kantigem Fünfzigerjahre-Bau, 60 Jahre alt. Dann sollte eine ordentliche Kapelle aufmarschieren und die berühmtesten Soundtracks der Welt zum Besten geben, dass die Obertürkheimer Weinberge beben.

Schon am Bahnhof, einem alten Gebäude mit Bistros, Kiosk und einer rustikalen Wirtschaft namens s‘ Dampflökle, fühlst du dich wie im alten Kintopp. Auf dem Bahnsteig der Gleise 5 und 6 steht eine Telefonzelle. Mit herausgerissenen Kabeln und ohne Telefon. Vor der Station begegnet man einem etwas klein geratenen Mann mit Hut, Kippe und Koffer. Eine Metallskulptur, sie heißt „Der Ausländer“. Obertürkheim, mon amour. Kein Mensch kann sagen, wie lange es diese Welt noch geben wird. Sicher ist nur, dass die Welt verrückt ist – und nichts heilig. Auch nicht meine Lebenszeit, von der ich heute nur erzählen kann, dass ich sie an Weihnachten verplempert habe. Doch bitte ich zu bedenken: Selbst die Sonne scheint, weil sie keine andere Wahl hat, auf nichts Neues. In diesem Sinne: Ein gutes Neues!



 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·