Bauers Depeschen


Donnerstag, 05. Oktober 2017, 1856. Depesche

Es gibt noch Restkarten für den FLANEURSALON am Dienstag, 17. Oktober, im Club Four 42 in Untertürkheim. Beginn 20 Uhr. Mit Rolf Miller, Loisach Marci, Anja Binder: EASY TICKET



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



DEMO VOR DEM RATHAUS

Für Donnerstag, 19. Oktober, rufen zahlreiche Initiativen und Organisationen, von den Anstiftern über Verdi und Flüchtlingsinitiativen bis zum Wasserforum, anlässlich der Haushaltsberatungen im Stuttgarter Rathaus zu einer Kundgebung/Demo auf dem Marktplatz auf. Motto: "Ihr spart uns kaputt und krank! - Es ist genug für alle da!" Redner der Initiativen behandeln Themen wie fehlendes Krankenhauspersonal, Wohnungsnot und die selbstausbeuterische Kultur der Off-Szene. Beginn: 16.30 Uhr.



Die aktuelle StN-Kolumne:

DAS DACH BIS ZUM BODEN

Am Sonntag habe ich Mühlhausen und Neugereut besucht und mich später am Tag der Deutschen Einheit an einem Ort erholt, der sich durch demokratische Regeln auszeichnet – sofern man sich das Eintrittsgeld leisten kann. Wie so oft saß ich im Mineralbad Cannstatt in der Sauna. Bei diesem kollektiven Schweißerlebnis unterscheiden wir uns zwar wie im richtigen Leben als Oben- und Untensitzer, sind aber nackt und hilflos – und ohne Handy gezwungen, auch mal nachzudenken.

Ein guter Saunaplatz ist auch ein Stück Heimat. Sollte mir eines Tages die reinigende Kraft des Aufgusses verwehrt bleiben, werde ich mit Dostojewski sagen: „Ohne Heimat sein heißt leiden.“

Der Bundespräsident hat in seiner Rede zum Tag der Einheit darauf aufmerksam gemacht: „Heimat gibt es auch im Plural.“ Grammatikalisch ist da richtig. Der Duden kennt „Heimaten“, auch wenn digitale Korrekturprogramme darüber stolpern. Die Bedeutung von HEIMAT wird bei uns schon lange so heftig und ergebnislos diskutiert, dass ich meine Definition zur Vermeidung bräunlicher Verherrlichung auf den Titel einer Weihnachtsgeschichte des Augsburger Schriftstellers Franz Dobler beschränke: „Heimat ist da, wo man sich aufhängt.“

Als ich in der Sauna hing und tropfte, habe ich versucht, mich an meine Begegnungen mit Einheitsdeutschland zu erinnern. An die Partys auf der Berliner Mauer und die Trabi-Kolonne auf der Glienicker Brücke, die ich im November 1989 in Berlin erlebt habe. Seltsamerweise habe ich nie vergessen, wie ich wenig später vor dem Berliner Haus der Kulturen in den falschen Bus gestiegen bin. Zusammen mit einem Kollegen fuhr ich nicht wie die Tage zuvor zum Bahnhof Zoo, sondern Richtung Osten zum Alexanderplatz – was wir unterwegs nur deshalb bemerkten, weil uns die Menschen im Bus sehr eigenartig vorkamen. Anders. Fremd. Damals waren wir nicht unbedingt von Vorurteilen geleitet. Eher verwundert, verstört, ratlos.

Danach bin ich nur selten in die neuen Bundesländer gereist. Mal eine Woche Ostsee. Mal zehn Tage Brandenburg im kleinen Seeort Caputh, Albert Einsteins Sommersitz. Ein paar Ausflüge nach Leipzig und Cottbus, Frankfurt/Oder und Dresden (samt Pegida-Aufmarsch).

Was heißt schon „Heimat“. Ich war auch noch nie in Kiel oder Kerpen, nicht mal in Bissingen und Bonlanden. Und vielleicht ist das gar nicht wichtig, solange man nicht mal die eigene Stadt richtig kennt. Neulich bei meinem Besuch der Veitskapelle von Mühlhausen, einem einzigartigen Beispiel gotischer Baukunst, hat mir die Pfarrerin Charlotte Sander erzählt, dass das verwinkelte Hügeldorf im Krieg fast vollkommen zerstört wurde. Vermutlich hatten die Bomben der Alliierten den Fabriken im benachbarten Zuffenhausen gegolten. Mühlhausen ist heute, ich habe es neulich erwähnt, ein Stadtbezirk mit 25 000 Einwohnern in fünf Stadtteilen.

Einer von ihnen ist Neugereut. Die Siedlung mit 8000 Einwohnern, gegenüber vom nordöstlichen Mühlhausen auf der rechten Seite des Neckars gelegen, wurde erst in den siebziger Jahren gebaut. Vielen ist sie heute höchstens als Endstation der Stadtbahnlinie 2 bekannt. Auch unsereins kam nur selten bis Neugereut. Vom Hauptbahnhof ist der Ort mit der Straßenbahn in lächerlichen 20 Minuten zu erreichen – gleich hinter Steinhaldenfeld, dem Cannstatter Stadtteil mit dem historischen Hauptfriedhof.

Von der Haltstelle ins Zentrum Neugereuts geht man wenige Meter zu Fuß. Sie führen in eine eigenwillige, in der Heimat nur wenig bekannte Stadtwelt voller bizarrer Überraschungen. Der „Architekturführer Stuttgart“ würdigt die Neugereuter Terrassenwohnanlage namens Schnitz: „Zunächst war eine konventionelle Reihenhauszelle konzipiert; daraus leitet sich auch der Namen ‚Schnitz‘ ab“ (schwäbischer Ausdruck für ein herausgeschnittenes Obststück). „Im Verlauf der Planung“, heißt es im „Architekturführer“ weiter, „kristallisierte sich dann ein komplexes vielschichtiges Gebäude heraus . . . Nahezu das gesamte Gebäude ist mit Eternit­Schindeln verkleidet, sodass sich Assoziationen eines bis zum Boden reichenden Daches, wie z . B. bei Schwarzwälder Bauernhöfen, einstellt.“

Beim Herumspazieren sehe ich in der Modellstadt Neugereut weitere futuristisch wirkende Bauten, etwa die sogenannten Zackenhäuser mit ihren steilen Dächern. Am Nachmittag lande ich im verglasten, sonntags verwaisten Laden- und Geschäftszentrum und schließlich im Bistro K 1, einer Bar mit Dartautomat und kinogroßer Leinwand, auf der gerade Hertha BSC gegen die Bayern kickt. Als ich den Wirt frage, ob es was zu essen gibt, denkt er kurz nach – und bringt wenig später Pizza aus dem Döner-Shop nebenan. „Kein Problem“, sagt er, „wir sind gute Nachbarn und Kurden.“

Neugereut international. Gegenüber hat eine gut besuchte polnische Bar mit einem Tresen geöffnet, der dem Kneipennamen Lümmelbrett alle Ehre macht.

Vielleicht ist Neugereut eine der Heimaten, von denen der Bundespräsident behauptet: „Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen.“

Nach Neugereut sind im Lauf der Zeit viele Fremde gekommen, darunter Deutsche aus Russland. In vergangenen Jahr habe ich mal im benachbarten Stadtteil Freiberg mit Deutschrussen gesprochen. Diese mir fremden Menschen besuchen regelmäßig die russisch-orthodoxe Kirche in meinem westlichen Heimatviertel und sind nicht unbedingt fremdenfreundlich – eher zornig auf alle, die Fremden eine Heimat bei uns schaffen wollen.

Zu den zentralen Gebäuden Neugereuts gehört die Jörg-Ratgeb-Schule, benannt nach dem legendären Maler und Bauernkanzler. 1480 im heutigen Schwäbisch Gmünd geboren, wurde er nach einem großen, kurzen Künstlerleben als Aufständischer wegen Hochverrats angeklagt und 1526 in Pforzheim hingerichtet – auseinandergerissen von vier Pferden.

In den drei Wahllokalen der Ratgebschule kam die AfD bei der Bundestagswahl auf durchschnittlich mehr als 20 Prozent. Ähnliche Ergebnisse kennt man aus den neuen Bundesländern. Im Bezirk Mühlhausen, hat mir die Pfarrerin erzählt, sind hohe Stimmanteile für rechtsnationale Parteien schon seit Jahrzehnten üblich.

Einiges scheint schief zu laufen in der Heimat, die wir selbst vor der eigenen Haustür viel zu wenig kennen.

 

 

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