Bauers Depeschen


Samstag, 05. August 2017, 1826. Depesche



FLANEURSALON mit ROLF MILLER

in UNTERTÜRKHEIM

Am 17. Oktober ist der Flaneursalon in Untertürkheim, an einem eher unbekannten Ort. Bei unserem Gastspiel in einem bizarren, zum Club ausgebauten Industriekeller machen der Halbsatz-Komiker Rolf Miller, das Folklore-Duo Loisach Marci und die Sängerin Anja Binder mit. Vorverkauf - auch telefonisch: EASY TICKET



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:



EINE FRAU AUS STUTTGART

Alles begann mit Hemingway. Als Schuljunge hat Michael Uhl, 1971 in Stuttgart geboren, „Wem die Stunde schlägt“ gelesen. Die Geschichte des Guerilleros Robert Jordan ließ ihn nicht mehr los. Er wurde Historiker und der Spanische Bürgerkrieg sein Lebensthema.

Um zwölf Uhr mittags treffen wir uns in der Tübinger Kneipe Hauptbahnhof. An der Wand hinter uns Fotos von Jazz- und Bluesmusikern. Michael trägt Koteletten wie die alten Rock-’n’-Roll­Helden. Elvis, Chuck Berry. Er erzählt mir, dass er gerade unter Schmerzen seine wunderschönen Gretsch-Gitarren verkauft hat, eine davon, Baujahr 1960, an den spanischen Jazzstar Biel Ballester; Songs von ihm kennen wir aus Woody Allens Filmkomödie „Vicky Cristina Barcelona“.

Michael braucht Geld. Er wird bald nach Spanien ziehen, um die Arbeit an seinem Buch fortzusetzen: Es handelt von der Geschichte der jüdischen Krankenschwester Betty Rosenfeld, die sich im Spanischen Bürgerkrieg als einzige Frau aus Stuttgart dem Kampf der Internationalen Brigaden gegen Francos Faschisten anschloss (lange wussten wir nur von Gerda Taro, die als Kriegsfotografin die Republikaner unterstützte, aber kein Brigaden-Mitglied war).

Zweieinhalb Stunden unterhalten wir uns im Tübinger Bahnhof bei Currywurst und Kaffee, ehe ich nach Stuttgart zurückfahre, wo ich erst die Gedenkstätte für die deportierten jüdischen Bürger am Nordbahnhof aufsuche – und dann die Breitscheidstraße (früher Militärstraße): Im Haus Nummer 35 ist Betty­Rosenfeld mit ihren Schwestern Charlotte („Lotte“) und Ilse aufgewachsen. Ihr Vater Benjamin, er starb 1937, betrieb ein Putzmittelgeschäft, ihre Mutter Theresia führte den Haushalt.

Die Namen Charlotte und Theresia Rosenfeld habe ich zuvor am „Zeichen der Erinnerung“ am Nordbahnhof gelesen, in der langen Liste der aus Stuttgart in die Vernichtungslager deportierten Juden, ehe ich in der Breitscheidstraße 39 zum Orthopädiegeschäft Dieringer gehe.

Der kommunistische Schuhmacher Sepp Dieringer, Laienschauspieler beim Theaterensemble Spieltrupp Südwest des Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf, war Bettys politischer Mentor. Er verkehrte in den Waldheimen der Arbeiterbewegung. Später versteckte er Bettys Mutter und ihre Tante Charlotte Behr in seinem Haus – beide wurden wenige Jahre danach in Treblinka ermordet. Sepp Dieringer und seine Frau Emma wurden von den Nazis im Hotel Silber, der Gestapo-Zentrale, eingekerkert und misshandelt. Emma war schwanger und verlor in der Zelle ihr Kind.

Das Fachgeschäft Dieringer in der Nähe der Liederhalle leitete nach dem Krieg Sepps Sohn Florian mit seiner Frau, Geschäftsführer ist heute Stefan Dieringer. Als Michael Uhl – er studierte Hispanistik und Geschichte und promovierte über „Deutsche Freiwillige bei den Internationalen Brigaden“ – in der Breitscheidstraße zu recherchieren begann, war er geschockt von seiner emotionalen Nähe zu diesem Ort: Unzählige Male war er zuvor in dieser Gegend gewesen, um sich im Sanitätshaus Weber & Greissinger in der benachbarten Schlossstraße seine Prothese anpassen zu lassen. Er ist vierzehn, als die Ärzte seinen linken Unterschenkel amputieren. Auf dem Weg zur Schule hat ihn ein Motorrad angefahren und lebensgefährlich verletzt. Michael redet über diesen Unfall heute mit einer Selbstverständlichkeit, als berichte er von einem Auftritt als Gitarrist in einer seiner Rockabilly-Bands.

Ja, sagt er, bei seinen Forschungen über Betty Rosenfeld könne man von einer gewissen Obsession sprechen: Er recherchiere tatsächlich wie besessen. Als er während seines Studiums in den neunziger Jahren im zentralspanischen Salamanca im Bürgerkriegsarchiv die Geschichte der Stuttgarter Krankenschwester entdeckt, fesselt ihn schon der Klang ihres Namens. Betty Rosenfeld wirkt auf ihn wie die Zeile eines Songs: schicksalhaft, geheimnisvoll, bedeutend. Er spürt, dass sich dahinter eine große, tragische Biografie verbirgt. Ein Leben, das nicht nur aufgearbeitet, sondern dringend auch gewürdigt werden muss.

Nach langen, intensiven Ermittlungen reist er im Juni 2017 in die USA, wo zwei Töchter von Bettys Schwestern Ilse in Kalifornien leben. Ilse war es als einzige der Familie gelungen, den Nazis zu entkommen, in die Vereinigten Staaten. Alle ihre Versuche, die Schwestern mitzunehmen, waren gescheitert. Von Bettys Nichten wird Michael herzlich aufgenommen. Die Menschlichkeit und Gastfreundschaft in ihrem Haus spornt ihn noch mehr an, Betty Rosenfelds Geschichte so öffentlich wie möglich zu machen.

Am 23. März 1907 in Stuttgart geboren, wandert sie – emanzipiert und politisch engagiert – nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester im Katharinenhospital und der Arbeit in einer Klinik mit ihren Schwestern 1935 nach Palästina aus. Während Ilse und Charlotte nach dem Tod ihres Vaters nach Stuttgart zurückkehren, um der Mutter beizustehen, reist Betty im März 1937 auf eigene Faust mit einem Dampfer von Haifa nach Frankreich und weiter nach Spanien. Sie will etwas tun. Im Sanitätsdienst der Brigaden, gebildet aus Freiwilligen, kümmert sie sich in Kliniken um Schwerkranke – eine gewissenhafte Pflegerin und „zuverlässige Antifaschistin“, wie es in einem Dokument heißt. Im Spätsommer 1938 heiratet sie den jüdischen Mitkämpfer Sally Wittelson aus Leipzig.

Kurz bevor Franco mithilfe der Faschisten aus Deutschland und Italien die Republikaner endgültig besiegt, flüchten Betty und ihr Mann über die Pyrenäen nach Frankreich. Es beginnt die Zeit der großen Leiden in erbärmlichen Lagern. Nachdem die Deutschen von den Franzosen die Auslieferung gefordert haben, werden jüdische Gefangene von August 1942 an auf Lastwagen und auf Güterzüge verladen und im September ins Vernichtungslager nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Michael Uhl geht davon aus, dass Betty gleich nach der Ankunft am 9. September 1942 in der Gaskammer ermordet wurde: Sie litt an einer Schilddrüsenüberfunktion, zitterte oft und landete deshalb vermutlich umgehend im Gas. Auch ihr Mann Sally wurde wahrscheinlich gleich nach der Ankunft in Auschwitz ermordet.

Vor dem Haus Breitscheidstraße 35 sind vier Stolpersteine ein­gelassen: für Betty, Charlotte und Theresia Rosenfeld sowie für Charlotte Behr. Alle ermordet im KZ.

Michael Uhl hat noch etliche Reisen vor sich, um Betty Rosenfelds Geschichte zu erkunden. Unter anderem muss er nach Berlin, Israel, Frankreich, Moskau. Die Stuttgarter Initiative Die Anstifter wird seine Forschungen finanziell unterstützen (weitere Spender sind willkommen). Neben seinem Buch über eine mutige Krankenschwester, die dem Kampf gegen den ­Faschismus ihr Leben opferte, hat der Historiker ein weiteres Ziel: Eines Tages, sagt er, muss es in ihrer Heimatstadt eine Geschwister-Rosenfeld-Straße geben.



 

 

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