Bauers Depeschen


Dienstag, 10. Juni 2014, 1300. Depesche



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Die aktuelle StN-Kolumne:



HOHLE, BLÖDE, TÖDLICHE WELT

Das Theater Rampe am Marienplatz ist bis zum 7. Juli – man möge es als Bild verstehen – „Herberge für alle“. Zu Pfingsten hat der „Vagabundenkongress“ begonnen, der zweite in Stuttgart (sofern man den mangels Beteiligung so gut wie vergessenen „Berber-Kongress“ im September 1981 außer Acht lässt). Der historisch wichtige, literarisch bearbeitete Vagabundenkongress fand an Pfingsten 1929 mit sechshundert Teilnehmern aus Europa im Freidenker-Jugend­garten hinter der Kunstgewerbeschule auf dem Killesberg statt. Ein Treffen von Tippelbrüdern und Künstlern.

Dazu aufgerufen hatte Gregor Gog, berühmt als „König der Vagabunden“, obwohl dem ­Anarchisten jede Hierarchie fremd war. Gog, 1891 in Schwerin geboren, nach dem Ersten Weltkrieg als Gärtner und später mit seiner zweiten Frau, der Jugendbuchautorin Anni Geiger („Schlamper“) in Stuttgart, schrieb die Poesie der Bewegung: „Die ­Bruderschaft der Vagabunden ist da, die zu sammeln, die bisher allein den Weg gegangen sind. Erst wenn diese hohle, blöde, ­tödliche Welt kaputt ist, erst wenn die Herberge für Alle hier auf Erden verwirklicht ist: Dann erst ist unsere Mission erfüllt!“

Heute also, 85 Jahre später, die „Herberge für alle“ in der Rampe, im Depot der Zahnradbahn, wo mich der Blick auf die Gleise nicht nur an das gefährliche Herumreisen der Hobos erinnert, an die amerikanischen Eisenbahn-Kollegen der europäischen Landstraßen-Wanderer. Aus den USA schickte der Schriftsteller Sinclair Lewis 1929 den Vagabunden ein Telegramm: „Nach Stuttgart zu rutschen ist lockend, aber es geht nicht. Ich wandere wie immer, aber in eine andere Richtung. Grüße an alle, die die Welt als Heimat kennen.“ (Sinclair Lewis erhielt 1930 den Nobelpreis.)

Der Vagabundenkongress 1929 sorgte weltweit in mehr als fünfhundert Zeitungen für Schlagzeilen. In der Stadtgeschichte, im Bewusstsein der Stadtvermarkter, ist er heute so gut wie vergessen oder verdrängt – wie all die anderen großen Ereignisse der zwanziger Jahre. Die Themenreihe der Rampe mit den Nachkriegs-Vagabunden als Symbolfiguren für ein Leben zwischen Hunger, Elend und Freiheit beschäftigt sich mit Menschen am Rand der Gesellschaft, mit Formen des politischen Protests und dem Umgang mit dem öffentlichen Raum in unseren Städten. Indirekt erinnert die Aktion auch verdienstvoll an das Stuttgart der Zwanziger, an die politisch und kulturell aufregendste Epoche der Stadt, die längst eine Würdigung verdient hätte. Dankenswerterweise hat der Historiker Jörg Schweigard 2012 das Buch „Stuttgart in den ­Roaring Twenties – Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur 1919 – 1933“ veröffentlicht; ­Erhellendes über diese Zeit findet man (außer im Internet) auch in dem 1989 von Horst Brandstätter und Jürgen Holwein heraus­gegebenen, leider vergriffenen Werk „Stuttgart – Dichter sehen eine Stadt“.

Behörden, Polizei und Politiker wollten 1929 den Vagabundenkongress verhindern (ähnlich konservativ warnten Rathaus und Presse 1981 vor dem überregional groß ­angekündigten „Berber-Kongress“). In den zwanziger Jahren allerdings war Stuttgart ein Zentrum der Avantgarde, ein Schmelztiegel liberaler, politisch und kulturell fortschrittlicher Kräfte, die den Talkessel so städtisch machten, wie er nie wieder wurde. Es war die Epoche der Moderne, ein Begriff, der heute so dümmlich und falsch benutzt wird wie das Wort Anarchie (die Idee von einer Ordnung ohne Herrschaft).

An der Kunstakademie sorgten abstrakte Maler wie Hölzel, Schlemmer, Baumeister für Furore. Auf dem Weißenhof entstand die weltberühmte Bauhaussiedlung, im Varieté durfte die Sängerin/Tänzerin Josephine Baker auf die Bühne, während sie in ­München, Wien und Budapest wegen ihrer knapp geratenen Kostüme Auftrittsverbot hatte. In Stuttgart waren rebellische Geister wie der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf (er kannte Gregor Gog gut) und die Sozialistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin zu Hause; der Unternehmer Robert Bosch hatte schon 1906 den Acht-Stunden-Tag und die Fünf-Tage-Woche eingeführt.

In den Zwanzigern regierte der konservative (keineswegs nationalistische) Oberbürgermeister Karl Lautenschlager; nicht ­zufällig flüchteten 1920 die Berliner Regierung des Sozialdemokraten Friedrich Ebert und der Reichstag beim Kapp-Putsch vor den Reichswehr-Horden nach Stuttgart (ins Alte Schloss und ins Kunstgebäude).

Der Vagabundenkongress 1929, bevölkert auch von sympathisierenden Künstlern, passte in dieses lebendige, bunte Stuttgart, wo an vielen Orten der Jazz den Rhythmus vorgab. Der Kongress scheiterte am Zwist zwischen Obdachlosen und Intellektuellen, am der Kontroverse über Disziplin und Freiheit. Zehn Jahre später fand auf dem Killesberg die Reichsgartenschau statt, 1941 und 1942 wurden vom Killesberg aus jüdische Bürger in die Vernichtungslager der Nazis deportiert – wie andernorts auch zigtausend Obdach­lose, von den Nazis als „Nicht­sesshafte“ verfolgt.

Der Vagabund als Sinnbild für Armut, Arbeitslosigkeit, für den Verlust von Lebensorten und Heimat ist heute so aktuell wie vor hundert Jahren. Weiß der Teufel, warum man ausgerechnet wenige Tage vor der ­Eröffnung der „Herberge für alle“ im ­Stuttgarter Schlossgarten zwei Koffer mit Leichen fand. Laut Polizei kommen die Mordopfer, ein Mann und eine Frau, aus dem „Obdach­­losen­milieu“.



Und dann bitte ich um regen Zulauf in eigener Sache, der Herbst kommt schneller, als man denkt:



MIT UTA KÖBERNICK:

FLANEURSALON iM THEATERHAUS

Unsere nächste Lieder- und Geschichtenshow findet am Montag, 13. Oktober, im Theaterhaus statt. Als besonderen Gast begrüßen wir die Kabarettistin und Liedemacherin UTA KÖBERNICK. Die in der Schweiz lebende Künstlerin übernimmt eine Rolle, in der man sie bisher nicht kennt: Sie führt als Entertainerin durch den Flaneursalon-Abend. Musik machen der Sänger/Songschreiber Zam Helga, seine Tochter Ella Estrella Tischa sowie der Rapper Toba Borke und der Beatboxer Pheel. Der Vorverkauf hat bereits begonnen. Karten gibt es ONLINE und unter der Telefonnummer 07 11 / 4020 720.



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