Bauers Depeschen


Sonntag, 18. Mai 2014, 1288. Depesche



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WAS LÄUFT



DIE PAPIERTIGER MIT WIGLAF DROSTE

AN DIESEM DIENSTAG IM GALAO

DIENSTAG, 20. MAI, 19.30 Uhr: DIE PAPIERTIGER erstmals im Café GALAO am Marienplatz. Lesung mit Liedern. Mit Wiglaf Droste, Joe Bauer und Roland Baisch & The White Tigers. Eintritt frei. Einlass ab 18 Uhr.



SCHMUDDEL-BANKETT IN DER ALTSTADT

SAMSTAG, 24. MAI, 14 bis 20 Uhr: 1. Stuttgarter SCHMUDDEL-BANKETT im Leonhardsviertel. Motto: "Die Altstadt darf nicht vor die Hunde gehen!" Essen unter freiem Himmel, Live-Musik, Aktionen. Bei Regen im Sieglehaus (Galerie Kunstbezirk).



ES GIBT NOCH WENIGE KARTEN:

FLANEURSALON IM LABORATORIUM

Am Mittwoch, 28. Mai, ist es so weit: Der Flaneursalon gastiert nach 15 Jahren seines Bestehens zum ersten Mal im LABORATORIUM, in Stuttgarts ältestem Club. Ich erinnere mich, wie ich erstmals in Stuttgarts dunklen siebziger Jahren in diesen einsamen Laden stolperte. An lustige Nächte mit schlechtem Wein, billigem Schnaps und guter Musik. Der wahre Blues kam am nächsten Morgen. Apropos: Auf die Flaneursalon-Bühne gehen Stefan Hiss & Freunde, Dacia Bridges, Roland Baisch. Beginn ist um 20.30 Uhr. Karten gibt es im Internet - und ab kommenden Dienstag, 20. Mai, auch telefonisch: 07 11 / 6 49 39 26. Ich würde mich freuen, wäre der kleine Laden an der Wagenburgstraße am 28. Mai voll. Am Tag danach ist übrigens Himmelfahrt, da kann man doch am Vorabend mal durch die wärmende Hölle des Stuttgarter Ostens gehen.



Der Klick zum

LIED DES TAGES



Was zum Lesen:

DIESES SCHEISS-MÜNCHEN

Heute ein Text über die zwanziger Jahre in Stuttgart, ich habe ihn am vergangenen Samstag bei unserer Mix-Show zum 110-jährigen Bestehen des Autohauses Albrecht & Deffner, Alexanderstraße 36, vorgetragen. In diesem Gebäude, im vierten Stock zur Blumenstraße hin, hat von 1899 bis 1903 Clara Zetkin gewohnt.





Ich kam von Düsseldorf, dort sah ich Radschläger.

Ich kam nach Stuttgart, dort trank ich Steinhäger

Denn mit dem schwäbischen Wein

Scheint mir nicht allzu viel los zu sein,

Wenigstens nicht mit dem billigen,

Doch ich wohnte in dem Olgabau,

Einem Schlosse einer hohen Frau,

Die mir auch die besten Sorten tat bewilligen,

Ach, ich schwirrte von Vergnügen zu Vergnügen.

Schien auch dem Publikum zu genügen.

Durfte über ein Auto verfügen,

Fuhr mit diesem herrschaftlichen Benz

Wie eine quietschfidele Eminenz

Nach Marbach an dem Hause vor,

Wo Kodweiß Schillern einst gebor,

Ging auch kollegial hinein

(Scheinbar schien mir alles dürftig, ernst und klein),

Sah mich also recht bescheiden eilig satt,

Freute mich später kannibalisch dann

Über einen Brunnen zum Wilden Mann,

Welcher Wilde zwei Feigenblätter hat,

Und zwar nämlich eins von irgendwo

Und das andere ganz hinten vorm Popo.



Kehren wir nach Stuttgart nun zurück . –

Und wer will, der mag dort bleiben. –

Ich persönlich schwamm dort wie ein Schwamm im Glück,

Heißt: Ich soff mich voll und ließ mich treiben.

Nach der Wettermeldung war es kalt.

Ich besuchte eine Irrenanstalt.

Eine Schitzophrenin sprach so wunderwirr.



Ach, was ich noch alles schaute!

Und wie fürstlich wohnte, wie gesagt, ich hier!

Dass ich niemals mich aufs Nachtgeschirr

Und auch sonst mir vieles nicht getraute.

Morgen zwölf Uhr lande ich bei dir.

Und was bringe ich als Souvenir?

Was von Stuttgart mit? – Manch treuen Gruß.

Eine Probe des erwähnten Weines,

Anekdoten und ein süßes, kleines

Embryo in Spiritus.

Das war „Stuttgart“, ein Gedicht von Joachim Ringelnatz.

Ringelnatz, verehrtes Publikum, habe ich Ihnen vorgetragen, weil der Dichter an ein Stuttgart erinnert, das einem viel städtischer erscheint als das Stuttgart von heute. Leider ist diese Epoche nicht gebührend präsent in der Geschichte der Stadt, so wenig wie die Tradition der schwäbischen Rebellen und Widerständler von den Bauernkriegen bis heute, wo sich alle Welt über den Protest der angeblich so biederen Schwaben gegen Stuttgart 21 wundert.

Der Dichter, Maler und Kabarettist Joachim Ringelnatz, 1883 in Sachsen geboren, trat regelmäßig im Stuttgart der zwanziger Jahren auf, immer im Matrosenanzug, listig einen Betrunkenen spielend, aber hellwach.

Die Zwanziger Jahre sind die Blütezeit der Varietés. In Stuttgart herrscht währen der Weimarer Republik ein buntes, aufregendes Leben. Die Stadt ist liberal und aufgeschlossen. Nicht zufällig flüchtet die Regierung des Sozialdemokraten Friedrich Ebert nach dem Kapp-Putsch der Hakenkreuz-Truppen im März 1920 nach Stuttgart. Der Reichstag zieht ins Kunstgebäude, die Regierung ins Alte Schloss. Viele der Politiker wohnen im weltläufig gestalteten Hotel Marquardt neben dem ersten Stuttgarter Bahnhof in der Schlossstraße, heute Bolzstraße. Oberbürgermeister Karl Lautenschlager widmet den Flüchtlingen ein Festmahl.

Es ist die Zeit der großen Umbrüche. Robert Bosch hat schon 1906 in seinem Werk den Acht-Stunden-Tag und die fünf-Tage-Woche eingeführt. Der Unternehmer sorgt mit seiner Erfindung der Zündkerze für den Aufstieg der Automobilindustrie, er wohnte eine Zeitlang in der Rotebühlstraße 145, direkt neben Clara Zetkin.

Die Zwanziger Jahre sind berühmt als die roaring twenties, und in Stuttgart geht es ganz schön rund. Die wilde, virtuose Sängerin und Tänzerin Josephine Baker darf trotz ihrer exzentrischen Kostüme unzensiert auf die Bühne. In München, Wien und Badepest dagegen hat die Amerikanerin mit ihrem Bananen-Röckchen Auftrittsverbot.

Alle großen Stars gastieren zu dieser Zeit im Stuttgarter Friedrichsbau. Die Clowns Grock und Charlie Rivel, der Komiker Karl Valentin, die Kabarettisten Marita Gründgens. Berühmt werden bald auch Willy Reichert und Oscar Heiler als Humoristen-Duo Häberle und Pfleiderer, sie spielen im Pavillon Excelsior, einer Kabarettbühne, wo auch die junge Lale Andersen ihre ersten, damals frivolen Seemannslieder singt.

Der russische Schriftsteller und Journalist Ilja Ehrenburg beschreibt in seinem Reisebuch Visum der Zeit 1927 die Stimmung in der Stadt:

„Unter den Lindenbäumen sind heute nicht die Seufzer Schumanns, sondern das Schmettern des Jazz zu hören; im Stadtpark gibt es eine ›Vorführung der Sommermoden‹. Das riesengroße Café ist überfüllt: Kleinbürger, Handlungsgehilfen, Kontoristen, Doktoren und Buchhändler der zwanzig Musterbuchhandlungen bringen hier ihren Tagesverdienst durch ...“

Der Kabarettist Ringelnatz notiert: „Stuttgart ist schön. Gegen dieses Scheiß-München ein Paris.“

Es wundert nicht, dass in diesem Stuttgart 1929 auf einer Killesberg-Wiese der „Vagabundenkongress“ stattfindet. Tippelbrüder, nach dem Ersten Weltkrieg aus Elend, Arbeitslosigkeit und Freiheitsdrang geboren, und Intellektuelle versuchen sich nach dem Aufruf des Anarchisten Gregor Gog, dem Gründer der Bruderschaft der Vagabunden, an einer gemeinsamen Aktion (das Unternehmen scheitert am Zwist zwischen Künstlern und Vagabunden).

Stuttgart ist eine Hochburg der Avantgarde. Große Bauhaus-Architekten wie Peter Behrens, Mies van der Rohe und Richard Döcker wirken in der Stadt. Die berühmte Weißenhofsiedlung entsteht. Abstrakte Maler wie Oskar Schlemmer, Adolf Hölzel und Willi Baumeister stehen für einen kulturellen Aufbruch, der weltweit Furore macht. Baumeister, der seine Kunst schon 1926 in New York ausstellt, schreibt 1929 in seinem Aufsatz „Stuttgart und die Schwaben“ nicht ohne Humor: „Stuttgart gehört zu den schönsten Städten des Kontinents. Im Sommer ist‘s im Talkessel heiß wie im Süden. Die Vegetation gedeiht wie im Treibhaus. Der Schlossplatz erinnert an Paris, der Hasenberg an Florenz, der Weißenhof an Algier, dank einer sowohl südlichen als auch radikal modernen Bauweise . . . “

Es ist die Epoche der deutschen Moderne. In diesem Klima wächst die 1910 in der Alexanderstraße geborene Gerta Pohorylle heran.

Die aufgeweckte junge Frau besucht Kunst-Ausstellungen, Varieté-Shows, Jazz-Konzert und die Spiele der Stuttgarter Kickers auf der Waldau. Als Neunzehnjährige zieht sie mit ihrer jüdischen Familie nach Leipzig; als sie Flugblätter gegen die Nazis verteilt und entdeckt wird, flieht sie nach Paris.

Im Exil begegnet sie dem ungarischen Fotografen André Friedmann. Beide werde bald unter den Namen Robert Capa und Gerda Taro als engagierte Kriegsfotografen im Kampf der Republikaner gegen die Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg berühmt. 1937 kommt Gerda Taro während eines Luftangriffs von Hitlers Legion El Condor in der Nähe von Madrid ums Leben. Den Trauerzug zu ihrer Beerdigung auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise begleiten zigtausend Antifaschisten, die Dichter Louis Aragon und Pablo Neruda halten die Grabreden.

In Stuttgart dauert es bis 2008, ehe man Gerda Taro einen (bis heute schäbig gestalteten) Platz an der Hohenheimer Straße beim Olgaeck widmete Gerda Taros Geschichte wird zurzeit von Michael Mann in Hollywood verfilmt.

Auch in der Literatur bewegt sich viel im Stuttgart der zwanziger Jahre. Gut hundert professionelle Autoren leben in der Stadt, darunter revolutionäre Geister wie der Arzt und Dichter Friedrich Wolf oder Fred Uhlman, ein jüdischer Schriftsteller und Maler. Fred Uhlman ist bis heute im Ausland bekannter als bei uns, und wie ich auf seine Geschichte gestoßen bin, will ich Ihnen erzählen.

Im Juli 1988 gehen wir in der Redaktion (der Stuttgarter Nachrichten) aufgeregt dem Gerücht nach, in Stuttgart werde ein internationaler Kinofilm gedreht. Damals verspricht eine solche Sache ein Ereignis für die Stadt, zumal durchsickert, die Hauptrolle spiele der Hollywood-Star Jason Robards. Tatsächlich beginnen ein Jahr später in Stuttgart die Dreharbeiten. Die Crew nimmt das Hotel Interconti (heute Le Méridien) in Beschlag und ruft die Bürger auf, sich als Komparsen zu bewerben. Gesucht werden Nazi-Typen. Der amerikanische Regisseur Jerry Schatzberg verfilmt Fred Uhlmans Erzählung „Reunion“ . 1971 erschienen, wurde das Buch in elf Sprachen übersetzt, bei uns unter dem Titel „Der wiedergefundene Freund“. Es handelt von zwei Stuttgarter Schülern der zwanziger Jahre; ihre Freundschaft zerbricht, als sich einer von ihnen den Nazis anschließt. Jahrzehnte später stellt sich heraus, dass der Nazi-Junge sich zum Hitler-Attentäter gewandelt hat. Historischer Hintergrund: Fred Uhlman war ein Schulfreund des frühen Nazis und späten Widerstandskämpfers Claus Schenk Graf von Stauffenberg.

Uhlmann, am 19. Januar 1901 in Stuttgart geboren, wächst von 1913 an in der Hölderlinstraße 57 auf. Er besucht das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, studiert Jura, promoviert 1925 und arbeitet in Stuttgart für den Sozialdemokraten Kurt Schumacher.

Am 23. März 1933 gibt ihm der Stuttgarter Nazi-Richter Gottlob Dill den Wink, ins Exil zu flüchten. Tags darauf flieht er über Freiburg nach Frankreich. In Paris arbeitet er als Maler, in Spanien lernt er die Engländerin Diana Croft kennen und heiratet sie in London. So überlebt er als einziger seiner Familie den Zweiten Weltkrieg. Alle seine Angehören werden in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet.

Die Sprache von Goethe, Hölderlin und Mörike, notiert Uhlman später, sei ihm so fremd geworden „wie die Seen und Wälder und Städte Württembergs“. Dennoch setzt er in sein Buch „The Making of an Englishman – Erinnerungen eines deutschen Juden“ die Widmung: „Der Stadt Stuttgart. Trotz Allem“.

„Der wiedergefundene Freund“ hat 1988 bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere. Doch erst seit April 2013 erinnern fünf Stolpersteine an der Hölderlinstraße und ein weiterer an der Hegelstraße an die Ermordung der Familie Uhlman. Ihr Schicksal hat man wie viele andere Kapitel der Stuttgarter Stadtgeschichte vergessen oder verdrängt.

Da wir gerade beim Film waren, noch ein paar Sätze zu den Stuttgarter Kinos der roaring twenties. 1928, fünf Jahre bevor die Nazis an die Macht kommen, zählen die Filmpaläste in der Stadt sage und schreibe sechs Millionen Besucher. Und wie die Bücher, Bilder und Bühnen sorgen auch die Kinos für Schlagzeilen und Skandale. 1926 verbietet der Stuttgarter Polizeipräsident Klaiber Sergej Eisensteins Film „Panzerkreuzer Potemki“. Die Stuttgarter aber nehmen das nicht hin, demonstrativ fahren sie an den Wochenenden mit Sonderzügen in die Schweiz, wo der Film unzensiert gezeigt werden darf. Friedrich Wolf sagt damals: „Stuttgart hat vielleicht die zahlreichsten Filmverbote – aber auch die härtesten Schwabenschädel.“

Diese widerspenstigen Köpfe, meine Damen und Herren, gibt es bis heute in der Stadt. ---











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