Bauers Depeschen


Mittwoch, 25. April 2012, 898. Depesche



GOTT ist tot. Der FC Barcelona draußen.



SOUNDTRACK DES TAGES



BETR.: FULDA

Ein mir unbekannter Mensch hat mir unter dem Namen Friedrich Fulda (seine @-Adresse war gefälscht) die folgende Geschichte gemailt. Ich stelle den Text zur Diskussion:



DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER

Ein wahrer Reisebericht



Das Baby in meinem Waggon schrie, als wäre sein Leben verwirkt. Das Baby sah sehr jung aus, so gut wie keine Kopfhaare, vermutlich war es vorhin im fahrenden Zug geboren worden, ungefähr bei Kassel. Ich kenne mich in diesem Geschäft nicht gut aus. Bei meiner Art Nachwuchsarbeit ist bis heute nichts Zählbares herausgekommen.

Ich habe davon gehört, Babys schrien vor Schmerz, wenn sie Zähne bekämen, ihre ersten. Das Baby in meinem Waggon hörte sich an, als bräche sein erster Stoßzahn durch den Kiefer. Aber kein Mensch hört hin, wenn ein Baby beim Halt in Fulda schreit. Viele schreien sich an dieser Station den Frust von Fulda von der Seele.

Schon oft bin ich mit dem Zug von Stuttgart nach Berlin und wieder zurück gefahren, und immer sind die sonderbaren Dinge in meinem Leben bei Fulda passiert. Einmal habe ich im Bahnhof Fulda aus dem Fenster gesehen und den Slogan der Stadtwerbung auf einer Bahnsteigtafel gelesen: „ideal zentral“. Da war mir alles klar. Es war wie damals, als der Intercity noch in Böblingen hielt..

Ich war guter Dinge auf dieser Reise, konnte nicht ahnen, dass Fulda an diesem Tag noch mehr auf Lager hatte als ein Elefantenbaby. Das Fulda-Drama begann, als die Mutter mit ihrem Elefantenbaby sich anschickte, ihr Baby mit großer körperlicher Leidenschaft in den Schlaf zu wiegen. Sie betrieb ihre Übungen so lange, bis der Waggon schaukelte und sich der Kaffee aus meinem Pappbecher über meine Hose ergoss. Der Kaffee im Intercity ist bekanntlich dünn und scheiße, aber er war heiß. Ich schrie laut auf, die Schmerzen kamen aus dem Stoßzahnbereich. Als mich die Fahrgäste vorwurfsvoll anschauten, zog ich wie Clint Eastwood die Haut meiner Backe unter dem linken Auge hoch und zeigte mit abgewinkeltem Daumen auf das Baby. Hätten Sie je Zähne bekommen, hätten Sie mehr Mitgefühl mit jungen Menschen, sagte ich zu einem Mann, der mich betont erwachsen anschaute.

Ich hatte Fulda mit nasser Hose hinter mir gelassen, als sich eine Dame mit zwei Jungs in die Nische vor mich setzte. Die Dame war extrem dünn, sie trug einen Kampfbürstenschnitt, eine Mischung aus José Mourinho und Renate Künast. Prägend aber war ihr Gesicht, das typische Fuldaer Sparbüchsengesicht.

Das Fuldaer Sparbüchsengesicht zeichnet sich durch militärische Schmallippigkeit aus und unterscheidet sich vom schwäbischen Sparbüchsengesicht durch einen leichten Oberlippenbartansatz.

Zwischen Fuldaer Sparkassenbüchsenlippen passt keine Fünf-Cent-Münze, auch nicht beim Sprechen. Diese stählerne Erotik setzt sich in anderen Körperzonen fort.

Die beiden Jungs und die Mutter hatten noch nicht richtig Platz genommen, da wusste ich bereits, wie die Jungs hießen. Kaum saßen sie auf einer Arschhälfte, begann das Sparbüchsengesicht, maschinengewehrartig ihre Namen zu rufen, bis nicht einmal mehr das Baby mit dem Stoßzahn zu hören war. Die Jungs hießen Joschi und Marius.

Von Joschi und Marius kam kein Laut. Aus Langeweile dachte ich eine Weile darüber nach, warum man ein unschuldiges Kind mit dem Vornamen eines der schlimmsten Sänger strafen konnte, den das Popgeschäft je hervorgebracht hat. Ausgerechnet diesen Kerl mit dem Sound eines singenden Sparbüchsenschlitzes. Ich stellte mir das Sparbüchsengesicht vor, wie es mit feuchten schmalen Lippen am Lagerfeuer eine Fuldaer Staudamms „Frei-heit“ säuselte, bis sich einer erbarmte, Marius II. zu zeugen, nur um seine Ruhe zu haben. Der Doppelname im Haus ließ nicht lange auf sich warten.

Von den beiden Jungs im Zug war wie gesagt nichts zu hören. Marius grinste gelegentlich mit schmalen Lippen durch die Lücke zwischen den Lehnen meiner Vordersitze, um mich als Publikum zu gewinnen. Ich gab ihm mit gestrecktem Daumen und Zeigefinger das Victory-Zeichen, und er streckte mir die Zunge raus. Beim nächsten Mal werde ich sie dir abbeißen, sagte ich so leise, dass nur er es hören konnte. Da wusste Marius noch nicht, dass er in Fulda in den Intercity zur Hölle gestiegen war.

Ohne Atempause ermahnte das Sparbüchsengesicht Joschi und Marius, den Mund zu halten, obwohl beide kilometerlang keinen Ton von sich gegeben hatten. Sie sagte: Wir machen jetzt ein Spiel. Wer am längsten schweigt, hat gewonnen. Ich hörte nichts außer dem Rollen der Räder und setzte bei meinem Buchmacher heimlich hundert Euro, dass die Mutter das Spiel nicht gewinnen würde. Prompt giftete sie im Kasernenton: Der Fernseher bleibt so lange aus, bis ihr Schweigen gelernt habt. Und wenn es acht Tage dauert.

Joschi und Marius sagten kein Wort, und so setzte wieder das Tröten des Sparbüchsengesichts ein: Wir machen jetzt ein andere Spiel. Es heißt der schweigende Mönch.

Der schweigende Mönch. Nie zuvor hatte ich von diesem Spiel gehört, auch nicht bei Edgar Wallace, ich befürchtete das Schlimmste. „Der schweigende Mönch“ klang nach Katholischer Kirche von hinten. Obwohl Joschi und Marius weiterhin schwiegen, wiederholte die Mutter ihre Drohung so laut, dass man es durch den ganzen Waggon hörte: Wir spielen jetzt der schweigende Mönch.

Erst nach ungefähr zehn Minuten jungenhaften Schweigens, das pausenlos durch das Sparbüchsengesicht-Gezeter unterbrochen wurde, lüftete sich mir das Geheimnis des schweigenden Mönchs. Das Sparbüchsengesicht aus Fulda hatte einen gottverdammten Sprachfehler. Wir kennen diesen Defekt von den Rheinländern. Sie konnte kein Esceha sprechen. Mit kindlichen Chchch-Lauten zischelte sie, wie wir das aus der Zeit von Günter Netzers Duetten mit Gerhard Delling kennen: Mir gefällt da spielerich überhaupt nichts, aber Techien ist heute technich besser.

Das Sparbüchsengesicht hatte nicht vom Spiel mit dem schweigenden Mönch gesprochen, nicht von einem Herrn mit Kutte, Messwein, Vaseline. Gemeint war der schweigende Mensch.

Joschi und Marius sagten nichts, und das war falsch. Die Mutter meldete sich neuerlich, und sie klang wie ein Gewerkschaftsmegafon: Wir machen jetzt ein neues Spiel. Es geht so: Wer am längst schweigt, hat gewonnen. Ich hörte keinen Laut. Vier, fünf Sekunden vergingen. Dann kreischte die Mutter: Marius, mir reicht es. Ich bin sehr unzufrieden mit dir. Der Fernseher bleibt jetzt acht Tage aus. Marius schien diese Drohung zu schlucken, weil im Waggon ja sowieso kein Fernseher lief.

Inzwischen hatte die andere Mutter ihr Baby mit dem frischen Stoßzahn in die Ohnmacht geschaukelt, im Waggon wurde es still, ich konnte das Klappern von fünfzig Laptops hören. Wie erwartet hob wieder das Sparbüchsengesicht an: Joschi, Marius, ich habe jetzt genug von eurem Tigerspiel. Das Tigerspiel ist das Letzte. Ich mag das nicht. Ich verbiete euch ein für allemal das Tigerspiel.

Weil auf dem Gebiet der Nachwuchsarbeit unerfahren, war mir das Tigerspiel kein Begriff. Ich fragte eine neutrale Dame auf dem Sitz neben mir, worum es sich beim Tigerspiel handle, ob es mit den Praktiken des schweigenden Mönch zu tun habe. Nein, sagte sie, das Tigerspiel symbolisiere den evolutionären Wettkampf der Männer. Ah, sagte ich, es geht also um die intellektuelle Überlegenheit, um die spirituelle Dominanz des Maskulinen. Nein, sagte sie, beim Tigerspiel geht es um den Größten, Stärksten, Schnellsten, Längsten.

O Mann, sagte ich, ich danke Ihnen, Madame, ich weiß, was Sie meinen. Dann begann ich leise zu singen:

„Wenn ich am Wochenende tanzen geh / Und ein ganz besonders schönes Fräulein seh' / Lass ich meinen Whisky Soda steh'n und dann / Dann, dann schleich / Ich an das Fräulein ran / So wie ein Tiger, oh, oh, oh / Ja, wie ein Tiger, oh, oh, oh / Denn sie gefällt mir gut / Drum hab' ich Mut / Oh, wau, wau ...“

Wow!, sagte die Dame und formte ihre vollen Lippen zu einem anerkennenden Lächeln. Ich übte im Kopf bereits den berühmten Peter-Kraus-Rülpser, dieses Schluckauf-Glucksen aus einem aufgeblähten Magen, als sich wieder das Sparbüchsengesicht zuschaltete, diesmal auf der Öko-Ebene: Marius, lass gefälligst den Mülleimer in Ruhe. Nimm die Hände weg. Am Ende leckst du den Mülleimer noch mit der Zunge ab.

Ich begriff nicht. Diese Sätze klangen nach einer bedrohlichen Kombination aus schweigendem Mönch und Tigerspiel. Wie gesagt, ich kam damals mit dem Zug aus Stuttgart, einer Stadt, wo räudige Hunde sich rudelweise für Tiger hielten, weil sie Nadelstreifen trugen. Wo schweigende Mönche überall herumleckten, wenn es darum ging, mit korrupter Scheinheiligkeit der Wahrheit aus dem Weg zu gehen.

Leider blieb mir nicht die Zeit, diesen politischen Gedanken zu Ende zu denken. Kurz vor Braunschweig hatte das Sparbüchsengesicht offenbar beschlossen, den Showdown der Eisenbahnfahrt einzuleiten. Marius, brüllte das Sparbüchsengesicht, und die Stimme schien blechern auf ihren harten Lippen aufzuschlagen, warum hast du Joschi gerade in den Finger gebissen?

Ich hatte nichts mitgekriegt, kein schmerzhaftes Stöhnen, keinen Blutspritzer, nichts. Mit der Erfahrung jahrelanger Analysestunden bei meinem Therapeuten begann ich mir zusammenreimen, was in diesem Zugabteil vor sich ging. Marius hatte beim Biss in Joschis Finger zwanghaft reagiert. Eine Ersatzhandlung. Er war Opfer. Nicht Täter. Marius hatte keinen anderen Ausweg gesehen. Er war am Ende. Er war der Tiger. Als er in Braunschweig mit Joschi und dem Sparbüchsengesicht aufstand, um aus dem Zug zu steigen, lief Blut aus seinem Mundwinkel. Ich schloss die Augen und schlief mit wilden Träumen bis Berlin.

Einige Jahre waren vergangen seit diesem Ereignis, als ich mir neulich im Intercity nach Berlin in Höhe von Kassel eine herrenlose Bildzeitung griff, um mich vom Babygeschrei im Zug abzulenken. Die Schlagzeile auf der Titelseite traf mich wie ein Stoßzahn: „ICE-Vampir von Fulda mordet weiter – Sechstes Opfer im fahrenden Zug“. Ich musste die Horrorgeschichte nicht zu Ende lesen, um die Sache zu begreifen. Der Mörder war Marius, er spielte das Tigerspiel. Er ging durch Intercity-Waggons zweiter Klasse, er sagte kein Wort – und dann / dann, dann / schlich er an die Fräuleins ran. Einem halben Dutzend Mütter hatte er auf diese Weise in den vergangenen Wochen die Zunge aus dem Schlund gebissen. Als ich in Fulda den vertrauten Bahnhof sah, stellte ich mir vor, wie es Marius genoss, wenn das Blut einer durchgebissenen Zunge an die Waggondecke spritzte, während sich vor seinen Augen im Zugfenster ein Sparbüchsengesicht spiegelte.

Keiner, das wusste ich, würde den Vampir von Fulda jemals schnappen. Keiner kennt ihn, und ich werde schweigen wie ein Mönch.



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