Bauers Depeschen


Donnerstag, 16. Februar 2012, 865. Depesche



SOUNDTRACK DES TAGES



NOTIZ

Am kommenden Samstag, 18. Februar, findet auf dem Schlossplatz die nächste Kundgebung gegen Stuttgart 21 statt. Motto: "Am Tag danach". Es sprechen u. a. Volker Lösch, Eisenhart von Loeper und unsereins; Hannes Rockenbauch moderiert. Beginn 14.30 Uhr. - Die nächsten Flaneursalon-Veranstaltungen findet man unter TERMINE



Die aktuelle StN-Kolumne:



EIN WENIG BLUT, EIN BISSCHEN RENDITE

Mehr Polizisten, als ich je gesehen hatte, fuhren in der Nacht zum Mittwoch mit ­Sonderbussen der Deutschen Bahn am Bahnhof vor. Solche Einsätze auf Rädern, auch als Rollkommandos bekannt, nennt man heute „Betriebsfahrten“. Das klingt nach Ausflug. Es war früh am Morgen, ­­­ ­ungefähr halb fünf, und höchste Zeit, mir eine Betriebsfahrt für Einzeltäter bei der Taxizentrale zu bestellen. Als ich im Westen losfuhr, schneite es heftig. Als ich am ­Bahnhof ankam, regnete es in Strömen. So ändern sich die Dinge in Stuttgart.

Im Schlossgarten seltsame, surreale Bilder. Die Polizeiarmee als dunkle Menschenmasse in Uniformen. Feuerstellen zum Aufwärmen, Flammen aus Ölfässern, wie man sie aus alten amerikanischen Groß­stadt­filmen kennt, als die Straßenjungs von New York noch ihre Spektakel vor den Broadway-Theatern aufführen durften.

Im Park, er schimmert im nassen Schnee wie ein See, bewegen sich dick eingepackte Demonstranten vor den Polizisten und ihren Pferden, lassen sich Schritt für Schritt zurückdrängen, als wäre der Aufmarsch choreografiert. Viele haben sich gegen die Kälte glitzernde Alufolien umgehängt, aus der Ferne ­wirken sie wie Rauschgoldengel auf dem Weihnachtsmarkt.

Trommeln in der Nacht. Eine Demonstrantin bläst die Posaune. Zu ihrer Melodie versuche ich zu singen wie früher Gus Backus, als er in Deutschland ein Schlagerstar war, bevor er auf ­Ölfeldern in Texas sein Brot verdienen musste: „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt, / Wer hat so viel Pinke-Pinke, wer hat so viel Geld?“

Es ist Galgenhumor, wenn man Schunkellieder spielt, während einem die Dinge entgleiten. Sie haben den Park geräumt, sie werden die Bäume fällen, sie werden die Stadt umbauen.

Als in der Nacht die Polizei anrückte, mussten die Leute im Regen die Nachricht verdauen, dass im Land 21 500 Wohnungen verkauft wurden, darunter 3800 in der Stadt. Sie waren im Besitz der Landesbank und damit auch von Stadt und Land. Für 1,4 Milliarden Euro gehen sie an die ­Immobilienfirma Patrizia AG in Augsburg, bayerisches Schwaben. Die ­Wohnungen, darunter 6000 Sozialwohnungen, bieten Platz für 60 000 Menschen.

Die grün-rote Regierung hat bei diesem Deal ihren eigenen Koalitionsvertrag gebrochen. CDU-Politiker, Aufsichtsräte der LBBW-Bank, ­haben bei dieser Attacke auf den sozialen Frieden und die ­Lebensqualität der Bürger Beihilfe geleistet. Es scheint nicht schwer zu sein, Zugriff auf diese Stadt zu bekommen, und womöglich ist noch mehr zu holen, wenn die Bürger den Aus­verkauf ihres Lebensraums zum Zweck der Profitmaximierung akzeptieren.

Wer sich am Morgen, als sie den Park für das Immobiliengeschäft S 21 räumten, am Kiosk oder im Internet umschaute, konnte Erhellendes über die Patrizia AG und ihren Stuttgart-Deal lesen: „Die börsen­notierte Firma hat einen vergleichsweise guten Ruf, sodass sie Vertrauenskredit verdient. Aufhorchen lässt allerdings, dass bei ihr an zentraler Stelle ein Manager mitwirkt, der einst für den US-Investor Fortress den Kauf der Immobilienfirma Gagfah einfädelte. Gagfah übernahm zum Beispiel vor fünf Jahren alle Wohnungen der Stadt Dresden. Und investierte dann in Dresden und anderen Städten halb so viel in seine Wohnungen wie Vermieter im Branchendurchschnitt. Das Ergebnis: Mieter klagen über Schimmel, kaputte Heizungen und Löcher in den Türen. Besser ging es Gagfah-Haupteigner Fortress: 2009 etwa kassierte der Investor, für dessen Spezies Franz Münte­fering einst den Begriff Heuschrecke prägte, eine hohe Dividende – obwohl Gagfah Verluste schrieb. Als die Stadt Dresden die Immobilienfirma verklagte, drohte ihr der erwähnte heutige Patrizia-Manager übrigens ein ,Blutbad‘ an.“

Der Text ist Teil eines Kommentars der „Süddeutschen Zeitung“, und es wird einem schwindlig, wenn Münteferings Parteigenosse, der sozialdemo­kratische S-21-Drahtzieher Schmiedel, die besorgten Leute beschwichtigt, man habe es nicht mit Heuschrecken zu tun. Es gehe nur um ein bisschen „Rendite“. Die Zusammenhänge des herrschenden Finanzsystems haben wir besprochen am frühen Morgen, als sie den Park in Besitz nahmen, und weil ich ein Ewiggestriger bin, habe ich auf meinem Taschentelefon einen amüsanten, zwanzig Jahre alten Artikel gefunden.

1992 berichtete „Der Spiegel“, wie in der „heimeligen Augsburger Innenstadt“ ein vierstöckiger Altbaukomplex mit 24 Wohnungen „offenbar systematisch entmietet“ werden sollte – „mit Hilfe hierzulande besonders unbeliebter Asyl­bewerber: Zigeuner“. So hat man damals noch Sinti und Roma genannt, und der Besitzer der Augsburger Immobilie hat eine Hundertschaft von ihnen einquartiert, um die anderen Mieter zum Auszug zu bewegen. Er wollte die Altbauwohnungen gewinnträchtig in kleine Apartments aufteilen. Dieser Augsburger Hausbesitzer heißt Wolfgang Egger. Heute ist er Vorstandschef der Patrizia AG.

Willkommen bei Freunden in Stuttgart.



KOMMENTARE SCHREIBEN IM LESERSALON

DIE STN-KOLUMNEN



FRIENDLY FIRE:

NACHDENKSEITEN

FlUEGEL TV

RAILOMOTIVE

EDITION TIAMAT BERLIN

Bittermanns Fußball-Kolumne Blutgrätsche

VINCENT KLINK

KESSEL.TV

GLANZ & ELEND





 

 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·