Bauers Depeschen


Dienstag, 13. September 2011, 788. Depesche



NOTIZ

Bald beginnt wieder die Arbeit, und am Mittwoch, 28. September, ist Flaneursalon in der ROSENAU - es gibt noch Karten.



Zur Erinnerung:

VERGESSEN

Der unappetitliche Winter im Jahre 2009/2010 hatte mir mein Geschäft als Spaziergänger so gründlich versaut, dass ich als Straßenköter abdanken und Internetsurfer werden wollte. Dann aber nahm ich ein Taxi. Ossietzkystraße, sagte ich zum Fahrer. Welche Hausnummer?, fragte er. Unwichtig, sage ich. Straßen, die man nach Linken benannt hat, sind nie länger als zehn Meter. Der Taxifahrer lachte, und das Haus, das ich suche, fanden wir schnell.

Die Ossietzkystraße, in der Nähe des Hauptbahnhofs zwischen Kriegsberg- und Jägerstraße, eingesäumt von EnBW-Gebäuden, ist nur wenige Meter lang. Weil Straßenschilder wohl genormt sind, hat für den kompletten Ossietzky das Blech nicht gereicht. Nachname genügt. Im Kleingedruckten erfährt man den Rest: Carl von Ossietzky - Publizist und Friedensnobelpreisträger, 1889 geboren, 1938 gestorben.

Ossietzky, ein Opfer der Nazis. Immer wieder haben sie ihn verhaftet. 1933 landete er, schon schwer krank, im KZ, wurde gefoltert. 1936 erhielt er rückwirkend für 1935 den Friedensnobelpreis; die Nazis verweigerten ihm die Entgegennahme.

In der Nähe der Ossietzkystraße, vergleichsweise zentral gelegen, findet man die Geschwister-Scholl-Straße. Die Anne-Frank-Straße dagegen hat man, wie andere Namen von Widerstandskämpfern, an einem Zipfel des Fasanenhofs versteckt. Antifaschisten gedenkt man in Stuttgart, wenn überhaupt, in abgelegenen Nebenstraßen.

Als Willy Brandt 1992 starb, konnten sich einige Genossen von der Stuttgarter SPD noch an seinen Namen erinnern, und so fiel den Politikern wieder die trostlose Bahnhofsgegend ein. Zwischen Gebhard-Müller-Platz und Neckartor widmete man dem Widerstandskämpfer und Bundeskanzler 1993 einen Abschnitt der Neckarstraße. Die Willy-Brandt-Straße. Seitdem staubt es in der Gegend, fein wie Zigarettenasche.

Die Willy-Brandt-Straße lag lange im Abseits. Bekannt wurde sie erst durch den Kampf um drei besetzte Häuser. Die Häuser waren alt, sie hatten Stil und eine Vergangenheit, und im Innern roch es nach Widerstand und Anarchie.

Hätten die Politiker geahnt, dass man an dieser Straße später Gebäude für Landesministerien errichtet würde, wäre niemals der Name Willy Brandt ins Spiel genommen. Eher hätte man die benachbarte Adenauerstraße verlängert und frisch geschwärzt. Wenn der Innenminister in Zukunft Post verschickt, wird jedes Mal der Name des roten Willy darin auftauchen. Eine Pointe der Geschichte. Der alte Cognac-Willy wird etwas heiser aus seinem Sarg heraushüsteln. Geschieht euch recht, wird er sagen und an seiner Filterkippe ziehen. Genossen, wird er sagen, drüben im Bahnhofsviertel ist mein alter Freund Ossietzky stationiert, und wir haben etwas gemeinsam, falls es euch noch interessiert.

1971 erhielt auch Willy Brandt den Friedensnobelpreis, und als er ihn in Olso entgegennahm, würdigte er in seiner Rede den Genossen Ossietzky als Kämpfer gegen Militarismus und Nationalismus. Das aber ist alter Kram, denken sich Schmiedel & Schmid, die wandelnden Abrissbirnen der SPD, man sollte die Sache vergessen wie den Bonatz-Bau und die Reste der Sozialdemokratie. Das ist Geschichte, und Geschichte ist nicht das Geschäft der Immobilienspekulanten.

Alles lange her. War ja keiner dabei, als man Ossietzkys Bücher verbrannte, und wenn ich mich richtig erinnere, habe ich Willy Brandt in Stuttgart nur ein einziges Mal gesehen, das war im Oktober 1979 bei einer Podiumsdiskussion. Nach der Veranstaltung saß er in der Weinstube Widmer im Leonhardsviertel und trank bis spät in der Nacht mit den Gästen auf die internationale Solidarität.

Besser erinnern kann ich mich an die Nacht zum 30. April 2004. Da fuhren in der Willy-Brandt-Straße im Morgengrauen Bulldozer vor und machten die Gebäude dermaßen platt, dass keine drei Urnen Schutt übrig blieben. Es war ein ungleicher Kampf. Die Häuser standen unter Denkmalschutz. Die Bulldozer unter Polizeischutz. Der nächste Tag war der 1. Mai, dann kam schon der Sonntag, und bis am Montag etwas in der Zeitung stand, war die Sache vergessen. Wie alles andere auch.

P. S: In der Nachbarschaft der Ossietzkystraßestraße schmückte lange der Namen von Hitlers Wegbereiter Hindenburg das historische Geschäftsgebäude gegenüber vom Bahnhof; Besitzer des Baus ist die Landesbank. Erst im Herbst 2010, nach vielen Protesten, hat man das Namensschild entfernt. Der Vorschlag, den Hindenburgbau in Carl-von-Ossietzky-Bau umzubenennen, fand kein Gehör.

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