Bauers Depeschen


Freitag, 15. Oktober 2010, 598. Depesche



Der Vorverkauf für den Flaneursalon am 7. November im Theaterhaus läuft gut, es gibt nicht mehr viele Karten, also gleich zum Tagesgeschäft:



SÜDFLÜGEL

Im Trubel um den Immobilienzirkus "Stuttgart 21" spielt das Thema Architektur keine Rolle - die Bullaugen-Ästhetik des Kleinbürgertums spiegelt die Fantasielosigkeit der neunziger Jahre wider, und damit ist es gut. Geschichtsträchtige, für das Verständnis der Vergangenheit wichtige Architektur reißt man dagegen nieder. DIETER BARTETZKO hat sich diese Woche in der FAZ mit dem Südflügel des Hauptbahnhofs beschäftigt. Wahrscheinliche habe ich kein Recht, den Text komplett auf diese Seite zu stellen, er erscheint mir aber so wichtig, dass ich es trotzdem tue:



DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE IN STUTTGART JETZT SEHEN

Je schneller im Baustopp-Streit um "Stuttgart 21" Zusagen und Dementis einander ablösen, je schriller die Trillerpfeifen der Demonstranten und je trotziger die Durchhalteparolen der Bauherren klingen, desto weiter rückt der historische Stuttgarter Bahnhof aus dem Blick. Der Südflügel am Schlossgarten beispielsweise. Von ihm weiß zwar alle Welt, dass er nicht, wie zeitweilig seitens der Zuständigen erklärt wurde, vorläufig stehenbleibt, weil man seinen Abriss zurückgestellt hat, sondern weil sein Abbruch erst für das Frühjahr 2011 ansteht. Doch dass er ästhetisch und baugeschichtlich ein Gelenkstück des 1914 bis 1928 gebauten Ensembles ist, sieht und weiß kaum jemand.

Zu dieser Blindheit hat sicher beigetragen, dass das Fällen der alten Platanen in seinem Umfeld alle Aufmerksamkeit absorbierte und die allgemeine Empörung anfachte. Doch dieser rigide Akt lässt nun die zuvor von den mächtigen Laubkronen verdeckte Fassade so sehen, wie sie seit Jahrzehnten niemand mehr sah - kolossal, endlos und doch nie monoton.

Der Fernblick macht erkennbar, dass der Architekt Paul Bonatz sich beim Bau dieses Symbols des Fortschritts und der Beschleunigung von einer der ältesten Architekturen der Menschheit inspirieren ließ: den 2800 vor Christus entstandenen steinernen Einfriedungen der Pyramide des Pharaos Djoser in Sakkara. Von ihnen übernahm Bonatz die rhythmische Gliederung in vor- und rückspringende Trakte sowie die zugleich dekorative und den Eindruck der Kompaktheit steigernde Unterteilung durch kolossale Pfeilerpaare. Gleichsam zur Europäisierung, (wenn nicht gar Germanisierung) ließ er die mächtigen Muschelkalkquader seiner Fassade nicht glatt wie die altägyptischen Steine, sondern nach der Art staufischer Burgen roh behauen. Altägypten, so Bonatz später, habe ihn gelehrt, Architektur "auf ihre einfachsten Elemente zurückzuführen". 1919 bestätigte ihm der damals führende Architekturtheoretiker Paul Klopfer, sein Entwurf sei "die Stein gewordene Maschinerie unserer Zeit", und 1931 schrieb der angesehene ungarische Architekt Paul Ligeti, in Bauten wie dem Stuttgarter Bahnhof brenne "Ich-Vergessen, der Geist des kommenden Ägypten".

Die Zuversicht und die Angst der Moderne, Fortschrittsglaube und die Suche nach Halt in der Geschichte sind - und das ist heute so aktuell wie 1919 - in dem monumentalen Bahnhof Gestalt geworden, insbesondere in seinem Südflügel. Dass dieser nicht, wie die Bahn und die zuständigen Politiker es permanent tun, als belanglose schematische Verblendung von Gleisen und Bahnsteigen abgetan werden kann, liegt auf der Hand. Zu erörtern, ob er als Schlüsselwerk der Moderne zu retten ist oder in Teilen dem Neubau integriert werden kann, muss ein Thema des runden Tischs sein, um den sich Heiner Geißler bemüht. Er sprach zu Recht von den Baggern, die man beim Blick vom Konferenzort zum Bahnhof nicht sehen wolle. Sehen aber sollte man die Botschaften seines Südflügels.

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