Bauers Depeschen


Donnerstag, 18. März 2010, 466. Depesche



Olé VfB?

Adios compañeros.



NÄCHSTER FLANEURSALON: Mittwoch, 24. März, 20 Uhr, Theater-Restaurant Friedenau, Stuttgart-Ostheim. Vorverkauf: 0711 / 2 62 69 24. Siehe "Termine".



Achtung, ab sofort wieder auf dieser Seite:

JOE BAUER IN DER STADT - DIE STN-KOLUMNEN

(wegen Umbauarbeiten leider nicht immer auf dem aktuellsten Stand)



LESERSALON

E-Mail- „Kontakt



Friendly Fire:

www.kessel.tv

www.bittermann.edition-tiamat.de

www.unsere-stadt.org



Und weil auch die heutige Kolumne nicht bei StN online auftaucht, findet man sie in meinem privaten Krämerladen:



ALS ANNIE DEN SCHILLER ÖFFNETE



Am 16. März 2010 schien das Schlimmste vorbei. Zum ersten Mal seit Jahren war es abends um sechs Uhr wieder hell auf der Straße, der Schnee war weg, und Männer konnte man wieder als Männer und Frauen als Frauen erkennen. Die Menschen hatten sich aus ihren Wintersäcken geschält, und ich kam mir vor wie ein Schmetterling.

Auf Stiefeln mit dünnen Ledersohlen schwebte ich die Bebelstraße hinunter Richtung Berliner Platz. Statt der Schiebermütze hatte ich einen Stetson auf dem Kopf und war mir sicher, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Irgendwas.

Seltsam. Wenn man von vorne anfängt, landet man fast immer dort, wo man hergekommen ist. Ich ging durch die Altstadt. Am Leonhardsplatz kam eine Dame auf mich zu, sie sagte „Hallo“, und ich dachte: Lady, du musst neu sein auf der Straße, die Hallo-Zeiten sind vorbei. Mit Schrecken sah ich, dass an der Ecke die Gaststätte Schiller dunkel war. Verstummt. Der Schiller ist das Frühlokal, das jahrzehntelang die Straße mit Schlagern beschallt hatte, bevor die Martinshörner von Polizei- und Notarztwagen Peter Maffays Stimme übertönten. Du-uh-uh / Schiller zu.

Besorgt erkundigte ich mich im benachbarten Brunnenwirt, ob die Behörden Schillers Lichter ausgeknipst hätten. Keineswegs. Die marode Kneipe wird umgebaut.

Den Schiller hat bis in die Neunziger Annie geführt, da war Annie schon über neunzig und so legendär wie ihre Fleischsuppe. Als sie 1997 mit 99 starb und in Aldingen, Kreis Tuttlingen, beerdigt wurde, war in der Zeitung zu lesen: „Morgens um sechs öffnete sie noch im hohen Alter persönlich den Schiller, um die ersten Gäste einzulassen: Obdachlose, Sozialhilfeempfänger, Zuhälter und Prostituierte.“

Diese Angaben sind lückenhaft. Wenn die Wirtin Annie Heinrich den Schiller öffnete, gesellten sich zu den Huren und Luden auch Akademieprofessoren und Jazzmusiker, Galeristen und Maler, Schrottwagenhändler und Millionäre, Drogenfahnder und der Hitler-Fälscher Konrad Kujau. Ich war wohl auch dabei, sonst hätte ich nicht bis heute den Maggi-Duft von Annies Auferstehungsbrühe in der Nase.

Gegenüber führte Annie auch den Goldenen Heinrich. Dort waren Maffays Schnulzen weniger beliebt, dafür die Hymnen von Marianne Rosenberg. Frau Heinrichs Goldener Heinrich war ein Schwulenlokal und Annie die Mutter Teresa der Altstadt.

Als sie starb, hatte der Schiller längst seine Klasse und die Altstadt ihren Witz verloren. Die Kaschemme taugte nicht mehr als Sammelbecken der Nachtgestalten. Die Tage, als im Milieu Fettaugen auf der Brühe schwammen, waren vorbei.

So ließ ich am ersten Frühlingstag des Jahres 2010 den toten Schiller hinter mir und ging zum Bix-Jazzclub. Dem Saxofonspieler Sandi Kuhn wurde gerade der „Young Lions Jazz Award“ verliehen, ein Talentpreis der Männerzunft Lions Club. Ich setzte mich auf die Treppe und lauschte der Musik. Der Bandleader hatte sein bestes schwarzes Hemd angezogen, er führte uns weltläufig schwäbelnd in die Bedeutung seiner Kompositionen ein, und als er ein Stück mit dem Titel „Geborgenheit“ ankündigte, versagte ihm die Stimme. Der Musiker kämpfte mit den Tränen und entschuldigte sich: Bei dem Wort Geborgenheit werde er sentimental, in seiner Familie habe er sich immer so geborgen gefühlt.

O Sandi, dachte ich, wäre Annie noch unter uns, sie würde dich in die Arme nehmen, und ein Teller Fleischsuppe auf Lebenszeit wäre dir sicher. Bewegt saß ich auf der Treppe, zum ersten Mal hatte ich den Unterschied zweier Musiklager begriffen: Rock’n’Roller bringen ihr Publikum zum Heulen. Jazzer weinen selbst. Herr Kuhns Quintett spielte großartig, an der Gitarre der junge Herr Joachim Ribbentrop. Annie hätte dieser Name vielleicht an etwas erinnert. Bei jedem Spaziergang durch die Altstadt fallen mir seltsame Dinge ein, als ginge an diesem Ort der verdammte, dunkle Winter nie zu Ende. KOMMENTAR



 

 

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