Bauers Depeschen


Dienstag, 02. Juni 2009, 334. Depesche



BETR.: SELTSAME BEGEGNUNG



DIE KUNST, EINEN STIFT ZU TRAGEN



Ich fuhr im Bus, Linie 42, vom Rosenbergplatz Richtung Hauptbahnhof. Zuerst wollte ich am Katharinenhospital aussteigen und in der Bolzstraße ins Kino gehen. Unterwegs hörte ich dem Gespräch meiner Sitznachbarn zu und wurde neugierig. Am Katharinenhospital vergaß ich auszusteigen und fuhr mit gespitzten Ohren weiter.

Zwei Jungs, der eine schätzungsweise 18, der andere 16 Jahre alt. Sie redeten deutsch. Ihre Wortwahl, ihre Aussprache waren auffallend präzise. Leichter Akzent. Vielleicht Türken. Ich hätte sie fragen können, wollte aber das Gespräch nicht unterbrechen.

Der Ältere sagte: "Wenn du eine Sprache lernen willst, dann reicht es nicht, viel zu lesen. Alle sagen, du musst viel lesen. Lesen ist gut, aber das ist nicht alles. Das reicht nicht."

Der Jüngere sagte: "Ich lese viel. Das ist schon stressig genug. Was soll ich denn sonst noch machen?"

"Schreiben", antwortete der Ältere, "du musst schreiben. Es kommt gar nicht darauf an, was du schreibst. Einfach irgendwas. Du kannst ein Tagebuch schreiben, du kannst einen Kommentar über ein Fußballspiel in deinen Computer schreiben, du kannst Briefe schreiben. Wichtig ist, dass du dauernd schreibst."

Seltsame Typen, dachte ich, die reden über die Wichtigkeit des Schreibens, statt sich wie die anderen im Bus Stöpsel in die Ohren zu stopfen. Oder wie ich die Nachbarn zu belauschen.

Wer eigentlich, überlegte ich, hat noch Lust zu schreiben, wenn er nicht gerade seine Kohle damit verdient? Gut, da sind noch die Artisten der Slam-Poetry-Szene, die Selbstgedichtetes in Kneipen und Kleinbühnen vortragen. Seltsamerweise sind diese Abende immer schon Stunden vor Beginn knüppelvoll.

Gutes Schreiben genießt im Alltag kaum noch Ansehen. Selbst Geschäftsbriefe von Weltfirmen, habe ich festgestellt, sind seit Jahren unter aller Sau formuliert. Die Faxe haben bereits alle denkbaren Schludrigkeiten erlaubt, und seit den E-Mails ist es ohnehin wurscht, ob ein Analphabet oder ein Komiker dahinter steckt. Viele, die heute für Komiker gehalten werden, sind Analphabeten. Mangels Sprache lassen sie Fürze, ohne die Geschichte des Kunstfurzens zu kennen.

Als ich die Jungs im Bus belauschte und mir unauffällig Notizen machte, erinnerte ich mich an eine Geschichte des New Yorker Schriftstellers Paul Auster, man findet sie in seinem Essay- und Interviewband "Die Kunst des Hungers" (Rowohlt Taschenbuch Verlag).

Paul Auster war acht Jahre alt, als er 1955 mit seinen Eltern ein Baseballspiel der New York Giants besuchte. Die Giants waren seine Helden, und der größte von allen hieß Willie Mays. Willie Mays war ein Gott. Als Paul mit seinen Eltern nach der Partie das Polo Grounds Stadium verließ, mussten sie an den Spielerkabinen vorbei. In diesem Moment trat Willie Mays heraus. Dem kleinen Paul wurde schwindlig, doch er nahm sich ein Herz, ging auf den Baseballspieler zu und sagte: "Mr. Mays, können Sie mir bitte ein Autogramm geben?"

"Sicher, Junge", antwortete der Giants-Star Willie Mays. "Hast du was zum Schreiben?"

Hatte er nicht. Auch nicht Pauls Vater, nicht die Mutter. "Tut mir Leid, Junge", sagte der große Willie Mays. "Ohne was zum Schreiben gibt's kein Autogramm." Dann verschwand er in der Nacht.

Paul Auster berichtet, wie er lange heulte, weil ihn das Leben auf die Probe gestellt und er versagt hatte. "Seit jenem Abend", schreibt er, "trug ich immer einen Bleistift bei mir." Nie mehr wollte er sich mit leeren Händen erwischen lassen.

"Wie ich meinen Kindern gern erzähle", so endet Paul Austers Geschichte, "bin ich auf diese Weise zum Schriftsteller geworden."

Eines Tages, schätze ich, wird mir auf der Linie 42 ein Dichter begegnen.



AUSVERKAUFT!!!

Joe Bauers Flaneursalon im Fluss - die Lieder- und Geschichtenshow am Donnerstag, 25. Juni 2009, erstmals auf dem fahrenden Neckar-Käpt'n-Schiff "Wilhelma". 230 Passagiere haben Platz. Bordbegehung an der Anlegestelle gegenüber der Wilhelma ab 18.30 Uhr. Die Fahrt dauert ca. drei Stunden. Das Schiff ist bewirtet. Buntes Neckarwellen-Programm mit vorgelesenen Geschichten und musikalischen Weisen von Los Santos (Stefan Hiss), Michael Gaedt, Dacia Bridges und Anja Binder. (Siehe Depesche vom 29. 4.)



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