Bauers Depeschen


Donnerstag, 21. September 2017, 1846. Depesche



 



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HEUTE DEMO IM HALLSCHLAG: Gegen Mietwahnsinn

Am diesem Donnerstag, 21. September, findet eine Kundgebung der Mieterinitiative Hallschlag statt: "Gegen Abriss- und Mietwahnsinn". Hallschlag, Rostocker Straße 2-6, vor dem Kundencenter der SWSG. Dort sagt auch unsereins ein paar Sätze. Beginn 17.30 Uhr.



AM SAMSTAG DEMO GEGEN RECHTSRUCK

An diesem Samstag, 23. September, veranstaltet das Stuttgarter Bündnis gegen Rechts die Demo "Nein zur AfD - Gemeinsam gegen den Rechtsruck". Treffpunkt: 13 Uhr auf dem Stauffenbergplatz vor dem Alten Schloss.



JOE BAUERS FLANEURSALON live am Dienstag, 17. Oktober, im Club Four 42 in Untertürkheim. 20 Uhr. Mit Rolf Miller, Loisach Marci, Anja Binder. Reservierungen: EASY TICKET - ACHTUNG: Drei Viertel der Karten für den bizarren Industriekeller in der Augsburger Straße 442 sind bereits weg. Leichte Anfahrt mit S-Bahn, SSB (Linien 4 und 13), Busse - nur kurzer Fußweg vom Untertürkheimer Bahnhof. Auch Parkplätze vorhanden.



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

KLEINES GLÜCK

Heute endlich vollende ich das magische Dreieck vor meiner Haustür im Westen. Mitten in städtischer Umgebung, in meinem Fall von einer Autorennstrecke tranchiert, gibt es nicht mehr viele Quartiere, in denen du auf engem Radius in eine Metzgerei, eine Bäckerei und einen Obst- und Gemüseladen stolperst. Wir sollten Museumsmauern um diese drei Institutionen herum errichten, um späteren Generationen sagen zu können: An diesem Ort war es den Menschen einmal möglich, sich mit dem Nötigsten zu versorgen, ohne in riesigen Supermärkten verloren zu gehen.

Den Metzger Wagner und den Bäcker Bosch an der Schwabstraße beim Rosenbergplatzes habe ich schon gewürdigt. Jetzt ist, als letzter Teil der Triangel, der Obst- und Gemüseladen dran: das Grüne Eck. Auf der Tafel am Eingang, wo man normalerweise Hinweise auf Peperoni- oder Pflaumenangebote erwartet, hat jemand in schöner Handschrift geschrieben: „Den Gipfel zu erklimmen kann ein Menschenherz ausfüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Dieses Zitat aus „Der Mythos des Sisyphos“, einem Buch des französischen Existenzphilosophen Albert Camus, erzählt uns etwa über das absurde Leben angesichts des Todes. Unaufhörlich wuchtet Sisyphos seinen Stein den Berg hinauf, obwohl er weiß, dass er wieder zurückrollt. Hauptsache, er tut etwas. Ein Zyniker könnte hinzufügen: Sisyphos wird nie arbeitslos.

Es ist erst wenige Tage her, als kurz vor Mittag Sturmböen durch mein Westquartier rasen. Die Hand am Hut, will ich gerade über die Schwabstraße Richtung Heimathafen, als ich sehe, wie auf der anderen Straßenseite ein bärtiger Mann hinter einer Frau her eilt, sie an den Schultern fasst und zur Seite zieht. Sekunden später kracht von einem Ahornbaum vor der Metzgerei Wagner ein schwerer Ast mit der abgebrochenen Spitze voraus auf den Bürgersteig. Der Helfer in der Not, der den zuvor schon abgeknickten Ast gesehen und die Gefahr gerochen hat, ist Reinhard Riesch. Der Mann vom Grünen Eck.

Diese Anekdote erzählt vom Leben in einem intakten Quartier, anderswo Kiez genannt. Inhaber kleiner Läden sind nie nur Geschäftsleute. Meist führen sie auch eine Sozialstation. Anlaufstelle für Gespräche. Kummerkasten. Beichtstuhl. Dass einige Reinhard Riesch (59) „Bürgermeister“ nennen, hat allerdings nicht nur mit seinen Aufgaben als Laden-Hüter mit ­humanen Pflichten zu tun. Ich treffe mich mit ihm im Café Stöckle, einem wichtigen Fixpunkt am Rand meines magischen Dreiecks. Vielleicht, sagt er beiläufig, sei er ein „Paradiesvogel“. Eigentlich war mir an ihm nichts Besonderes aufgefallen. In lebendigen Stadtnischen sind bunte Vögel der Spezies Mensch so selbstverständlich wie die echten Papageien am Cannstatter Daimlerplatz. Vermutlich aber gilt es nicht als üblich, dass ein Obst- und Gemüsehändler wie Reinhard Riesch, genannt „Rio“, studierter Diplom-Agraringenieur ist und als solcher jahrzehntelang gearbeitet hat. Und der „Bürgermeister“ hängt ihm an, weil er tatsächlich mal Schultes war: von 2005 bis 2006 in Weissach, Kreis Böblingen, 7500 Einwohner, bekannt als Porsche-Gemeinde mit hohen Steuereinnahmen dank des Sportwagenbauers. Riesch sagt, dieser Job habe ihn, vor allem aufgrund der Immobilienpolitik, an Abgründe geführt und krank gemacht, depressiv. Man nennt das auch Burn-out. Nach nur einem Jahr wirft er das Handtuch, kandidiert aber spätere weitere Male als Bürgermeister, etwa 2012 in Steinenbronn, wo er 32,2 Prozent der Stimmen holt. Damals führt er schon seit drei Jahren das Grüne Eck. Heute fragt er sich, ob er einst nicht lieber nur Bürgermeister werden wollte, als Bürgermeister zu sein.

Rio ist Bauernsohn, sein Vater Fritz, heute 87, leitete den Römerhof in Heimerdingen, einem Stadtteil von Ditzingen. Inzwischen betreibt Rios Bruder Fritz den Hof. Nach dem Studium in Hohenheim – wo er kürzlich im Alter von 101 verstorbenen Widerstandskämpfer Theo Bergmann kennenlernt – arbeitet Reinhard Riesch lange als Agrarberater in Schiltach im Schwarzwald. In der kleinen Gemeinde geht es damals vor allem um die Balance von Landschaft und Tourismus.

Rio hat sich schon in den Siebzigern intensiv mit ökologischer Landwirtschaft beschäftigt. Einige Jahre war er Mitglied der Grünen, bis er austrat, um als parteiloser Bürgermeisterkandidat anzutreten. Vor Weissach hatte er fünf Jahre als Grundsatzreferent der Ingenieurkammer Baden-Württemberg gearbeitet. Die meisten Kunden im Grünen Eck habe irgendwann von diesen Lebenskapiteln gehört. Manche gehen in diesen Laden, wie sie in ihre Kneipe gehen: wegen des Wirts. „Das Besondere an meinem Geschäft ist, dass ich nichts Besonderes verkaufe“, sagt er. „Alles, was ich im Angebot habe, kriegt man auch woanders – und zwar billiger.“ Er bietet wenig Bioware an, meist übliche regionale Produkte vom Großmarkt. Beim Verkauf helfen ihm seine Frau Silvana und einige jüngere Leute für wenig Geld.

Sein Geschäft ist eine Trutzbude gegen die Übermacht der Super- und Luxusmärkte: klein und anfällig – und gerade deshalb Treffpunkt verschiedenster Menschen. In dem Laden werden auch mal sehr betuchte Leute gesichtet, etwa vom Killesberg.

Womöglich ist das grüne Eck Rios spätes Glück. Ort der Gelassenheit. Rückzugsraum. Fachsimpeltresen für Fußball und Leben. Der Vater dreier Kinder ist es gewohnt, mit Schicksalsschlägen umzugehen. 2014 hat er einen Herzinfarkt, er spricht von Herztod. Im Krankenhaus legt man ihm einen Stent, eine Woche später steht er wieder zwischen seinen Kiwi- und Wirsingkisten. Kurz darauf wird ihm, angeblich wegen irgendeines bürokratischen Formfehlers, sein Standplatz auf dem Wochenmarkt gekündigt – vor dem Rathaus hat er lange Gemüse angeboten, vor allem Zuckermais, Zucchiniblüten, Artischocken.

Rio hat Ahnung von der Natur und weiß, wie die Dinge entstehen. Wie aus 300 Körnern Saatgut in neun Monaten 20 000 Körner werden: wie sich 15 Gramm Weizen zu 1000 Gramm auf 400 Ähren tragenden Halmen vermehren. Solche Prozesse erklärt er seinen Kunden im magischen Dreieck, und der eine oder die andere begreift, dass wir nur kleine Sisyphosnummern sind angesichts der Mächte der Natur.



 

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