Bauers Depeschen


Donnerstag, 31. August 2017, 1839. Depesche



 



SCHADE, es ist etwas ruhig geworden - ist doch hier der Platz aller Dichter und Denker, Richter und Henker:

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JOE BAUERS FLANEURSALON live am Dienstag, 17. Oktober, im Club Four 42 in Untertürkheim. 20 Uhr. Mit Rolf Miller, Loisach Marci, Anja Binder. Reservierungen: EASY TICKET



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Die aktuelle StN-Kolumne:

CAMPUS-REITER

Noch eine Radtour, eine überraschende – und nicht mal mit dem eigenen Esel. Lupus holt mich an der Vaihinger S-Bahn-Station Universität ab. Er fährt ein Handbike, das mit den Armen und einem Elektromotor angetrieben wird. Der bodenständige Schwabe akzeptiert in diesem Fall die englische Bezeichnung: Auf Deutsch müsste er sein Fahrzeug „Rollstuhlzuggerät“ nennen.

Er heißt Wolf Horlacher, sein lateinischer Spitzname allerdings ist vor langer Zeit zu einer Art Marke geworden. Der junge Wolf war einst der stadtbekannte Discjockey Lupus, als man diesen Beruf in der Provinz noch nicht mit DJ abkürzte. Lange her, die wilden Sechziger, die fast peinlichen Siebziger, die hochstaplerischen Achtziger. Nein, ich will jetzt nichts erzählen von Rock ‘n‘ Roll und Psychedelic, von New Wave und Disco. Damals stolperte man von einem Wahnsinn in den nächsten. Jedenfalls musste das jedem so vorkommen, der wie Lupus seine ersten musikalischen Erregungen in der Cannstatter Tanzschule Schicki erlebte. Zuerst arbeitete er für 30 Mark pro Schicht in der legendären Cannstatter Rock-Diskothek Conny, später in der Boa an der Tübinger Straße und im Oz in der Kronprinzstraße – zwei Kultstätten mitten in den Modewellen des Pop, die einen Musikmacher auch nicht zwingend in die Liga der Reichen spülten.

Als Mitte der Achtziger Schluss war mit dem Plattenleger-Job, war Lupus noch gut zu Fuß. Heute ist er 67 und seit 17 Jahren Rollstuhlfahrer. Das war keiner dieser Schicksalsschläge aus dem Nichts, kein Unfall, der das Leben von einer Sekunde auf die andere radikal veränderte. Er ist noch keine 40, als sein Arzt erste Anzeichen einer spastischen Lähmung in den Beinen entdeckt. Bald geht er am Stock, dann an Krücken, schließlich sitzt er im Rollstuhl. Darauf hat er sich im Kopf vorbereitet. Es mag merkwürdig klingen, wenn er sagt: Der Rollstuhl habe sein Leben enorm verbessert, alles sei für ihn wieder schneller geworden, sein Radius habe sich im Vergleich zu den Jahren mit den Krücken entschieden vergrößert. Wer Lupus kennt, findet nichts merkwürdig an seinen Sätzen. Er hat sein Leben mit einer Selbstverständlichkeit angenommen, die er bei anderen Zeitgenossen oft vermisst. „Im Rollstuhl ist alles wie im richtigen Leben: Du kannst jammern – oder versuchen, das Beste aus deiner Situation zu machen. Und du musst lernen, das Leben nicht zu ernst nehmen.“ Er hasst Vorurteile, hat seine Erfahrungen mit Außenseitern gemacht. Etwa mit Straßenjungs aller Herren Länder, die schneller als andere Leute spüren, wer Hilfe braucht.

Lupus leiht mir ein schönes, altes Herrenrad aus den Beständen seiner Frau Sabine, einer Radiologin. Seit 15 Jahren ist er mit ihr zusammen, seit fünf Jahren verheiratet. Sie haben erfahren, wie die meisten Leute auf einen Rollstuhlfahrer reagieren: Grundsätzlich sprechen sie erst seine Frau an – wenn es um ihn geht. „Was bedeutet für dich Inklusion?“, frage ich. „Es wird mehr darüber geredet als getan“, sagt Lupus.

Das Ehepaar wohnt in einer Siedlung neben dem Vaihinger Universitätscampus. Zum ersten Mal sehe ich bewusst die Einrichtungen einer ebenerdigen, behindertengerechten Wohnung: Aufzüge, Elektronik, Automatik. Kostet viel Geld, auch gebrauchte Technik. Zur Wohnung kam Lupus mithilfe von Freunden, Geschäftsleuten, für die er bis zur Rente im kaufmännischen Bereich gearbeitet hat. Heute kümmert er sich um die Immobilien der Freunde. „Die Stuttgarter Wohnungssituation ist eine Katastrophe. Auf ein freies Apartment bekommst du 400 Bewerbungen“, sagt er.

Wir reiten los. Lupus wird mir das Unigelände am Pfaffenwald zeigen. Ich bin nicht zum ersten Mal auf dem Campus, habe allerdings keinen Schimmer, wie groß er wirklich ist: gut 100 Hektar gerodeter Wald, mehr als 130 Fußballfelder (soweit ich das ohne Mathematikstudium behaupten kann). Unsere Radtour wird zwei Stunden dauern. Lupus, das merke ich, ist von den Unibauten, diesen sensationell kontrastreichen Architekturen zwischen Holzhütte, Zeltkonstruktion und futuristischem Labor, sichtbar fasziniert. Als ich ihn danach frage, sagt er: „Unglaublich, wie sich das alles verändert hat in den vergangenen Jahren. Die vielen internationalen Menschen auf dem Campus, die neuen Gebäude mit ihrer ungewohnten Ästhetik. Du spürst an jeder Ecke, dass hier an der Zukunft gearbeitet wird.“ Mir ist diese eher fremd, ich halte es eher mit einem Mann, dessen Mutter wie Lupus in Cannstatt groß geworden ist: „Ich denke niemals an die Zukunft. Sie kommt früh genug“, hat Einstein gesagt.

Lupus ist nicht nur den exotischen Gebäuden und dem großzügigen Grün am Pfaffenwald näher gekommen, er hat auch Menschen kennengelernt. Neulich hat ihm ein Professor erzählt, dass seine Studenten gerade ein Fest gefeiert haben: Ein von ihnen gebauter Satellit hatte erstmals direkt über Stuttgart mit ihnen Kontakt aufgenommen. „Klein-Nasa“, sagt Lupus.

Den Campus beherrscht vorwiegend Technik: Luft- und Raumfahrt, Informatik, Energie- und Bioprozesse, Architektur und Stadtplanung. Natürlich geht es auch um Fahrzeuge, um Autos, um Mobilität überhaupt. Kein Außenstehender kann einschätzen, ob es an dieser Uni noch um freie Wissenschaft oder vielmehr um Auftragsarbeiten für die Wirtschaft geht. Mich als Laien erinnert die Kulisse manchmal an „Mad Max“­Filme. Wir begegnen geborstenen Metallmonstern und einer riesigen Röhre, die ich für eine Atombombe halte, ehe mich ein Techniker aufklärt: Es handelt sich um eine Messkammer für Überschall. Vieles wirkt auf mich wie Science-Fiction, und ich bedauere die vielen Studierenden auf dem Campus, die zurzeit trotz Semesterferien lernen und verdammte Klausuren schreiben müssen.

Vor der Cafeteria Contrast im Bauingenieursquartier haben sie sich mit Sand und Liegen einen „Campus-Beach“ eingerichtet, und an einer Lehne entdecke ich eine englische Botschaft, die mir auch übersetzt sehr gut gefällt: „Du bekommst nicht den Arsch, den du willst, indem du auf ihm sitzt.“ Mit dieser Erkenntnis endet mein Anfängerbericht aus einer mir noch unbekannten Stadt in der Stadt. Zu verdanken habe ich die Reise Lupus, dem Handbiker, und wieder gilt: Weiter, immer weiter.



 

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