Bauers Depeschen


Dienstag, 09. Februar 2016, 1585. Depesche



 



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LIED DES TAGES



TAGEBUCH

DEN FREAKS vom deutschen Wetterdienst, die mit ihren Sturm-Warnungen dafür gesorgt haben, dass einige Karnevalsumzüge auch dort abgeblasen wurden, wo der große Wind am Rosenmontag selig schlief, müssen wir ein Halleluja singen. Diese Leute haben ein Gespür fur guten Humor - und schützen ihn.



AN DIESEM DIENSTAG und Mittwoch gastiert ER in der Stuttgarter Liederhalle: HELGE SCHNEIDER, Deutschlands einziger großer Komiker, der uns auch 100 Jahre nach der Gründung des Cabarets Voltaire den DADA-Segen erteilt. Es gibt noch Karten.

Mein Kurzbericht am Mittwoch:

Wenn Herr Schneider sagt, er nehme zur besseren Verständigung mit dem Rest der Welt „Pillen zur Intelligenz-Reduktion“, dann tröstet uns das so sehr wie die Nachricht, Polizisten tarnten sich als Bananen mit zwei eingebauten Maschinengewehren und serienmäßigem Klo. Zum 100. Geburtstag von Dada leistet er mit seinen sechsköpfigen Band, dem universellen Tänzer Sergej Gleithmann und dem vom Meister selbst gesteuerten Bühnenlicht einen unersetzlichen Beitrag im Widerstand gegen die Entwirklichung der digitalisierten Welt. Helge Schneiders Komik, eingebettet in die globalen Gelassenheiten des Jazz, verschafft uns Bodenhaftung. Wer den Saal nach der Show verlässt, kehrt gestärkt zurück in den fortschreitenden Wahnsinn.

Es grüßt

"Neckarmann (macht's möglich)"



ZURÜCK IN DIE TIEFEN der heimischen Unterhaltung: Der nächste FLANEURSALON geht am Dienstag, 22. März, in der Friedenau in Stuttgart-Ostheim über die Bühne. Die Lieder- und Geschichtenshow in einem schönen, geschichtsträchtigen Wirtshaussaal, einst Treffpunkt der Arbeiterbewegung. Musik machen Stefan Hiss und Marie Louise & Zura Dzagnidze. Durch den Abend führt Michael Gaedt. Der Vorverkauf hat bereits begonnen. Friedenau, Rotenbergstraße 127. Beginn 20 Uhr. Reservierungen: 07 11 / 26 26 924.



DIE BERLINER EDITION TIAMAT hat noch mal eine kleine Auflage meiner Text-Sammlung "In Stiefeln durch Stuttgart" drucken lassen. Die erste war vergriffen.



SEIT EINIGEN MONATEN bin ich Mitglied eines vierköpfigen MÄNNERVEREINS, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jeden Dienstag zum Mittagessen ein Lokal aufzusuchen, das die Mitglieder noch nie oder schon sehr lange nicht mehr gesehen haben. 25 Kneipen haben wir inzwischen geschafft. An diesem Dienstag steuern wir das Reiterstüble in Botnang an. Zum Verein gehören Martin "Nolde" Arnold, Chrische Ulmer, Thomas Schöck und unsereins.



ES IST ERST FEBRUAR, doch die guten Karten für DIE NACHT DER LIEDER am 7./8. Dezember im Theaterhaus gehen bereits zur Neige. Der Vorverkauf für die zweitägige Benefiz-Show zu Gunsten der Aktion Weihnachten der StN läuft sehr gut. Karten gibt es täglich an der Theaterhauskasse, telefonisch unter der Nummer 07 11/ 4 02 07 20 und online: THEATERHAUS



AM 29. FEBRUAR spreche ich bei der Montagsdemo gegen S 21 auf dem Schlosspatz. Thema: Wählen?!



Noch was zum Lesen aus meinen Beständen:



IN DEN BERGEN

Zweimal innerhalb einer Woche bin ich zur Stadtgrenze vorgedrungen, es waren erregende, geografisch ausschweifende Ausflüge. Diese Trips haben nichts damit zu tun, dass ich mich in der jüngeren Vergangenheit als Schreibknecht eher selten zu Wort gemeldet habe. Das war die Bronchitis. Aber auch ohne mein Zutun verschmutzen tagtäglich reichlich Buchstaben die Welt, und ich kann jedem nur raten, gelegentlich den Blick zu heben und

Seltsamerweise erinnere ich bis heute, wie ich während der Stuttgarter Leichtathletik-WM 1993 im Schlepptau einer sprachbegabten Kollegin mit einer Gruppe Italiener nach Uhlbach kam, und diese Leute bei der Ankunft schwärmten, sie kämen sich vor wie in der Toskana. So weit habe ich damals noch nicht gedacht. Ich wusste nur, dass man von einem guten Platz aus im Neckarstadion, dem Schauplatz der WM, hinaufschauen konnte zur Grabkapelle auf dem Württemberg, hoch über Uhlbach, knapp unter den Wolken. Und davon hatte ich nur gehört, weil es der Sportreporter und Schriftsteller Hans Blickensdörfer in den poetischen Ausschweifungen seiner VfB-Berichte erwähnte.

Wie klein die deutsche Großstadt Stuttgart doch ist. Die meistens Stadtgrenzen erreicht man von der Ortsmitte aus in weniger als einer halben Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln. So lange braucht man in richtigen Metropolen, um einen Boulevard oder den Marktplatz im Eilschritt zu überqueren. In Uhlbach, am Rande von Esslingen, ist man blitzschnell, wenn man mit der S-Bahn nach Obertürkheim fährt und am Bahnhof in den 62er-Bus nach Uhlbach steigt. Ich empfehle diesen Kurzausflug dringend. Auf keine andere Art blickt man so frontal ins wahre Gesicht Stuttgarts.

Uhlbach ist weithin bekannt als Weindorf, und in der jüngeren Geschichte haben die Wengerter alles getan, ihre Erzeugnisse zu veredeln. Ich erlaube mir nicht, mich in die neue Rebenkultur einzumischen. Das überlasse ich Leuten, die ihre Nase minutenlang in das kreisende Weinglas zwischen ihren Pianistenfingern stecken. Dafür kann ich berichten, dass ich im Collegium Wirtemberg, dem Zusammenschluss der örtlichen Weinbauern, aufgeschlossene, angenehme Zeitgenossen getroffen habe.

Ich bin in Uhlbach herumgegangen, in nach Trollinger, Riesling und Sylvaner benannten Straßen, hab im Ochsen die berühmten Brätknöpfle mit Kraut gegessen und mit der Wirtin die Stuttgarter Weltlage besprochen. Im Weinmuseum mitten im Dorf, mit seinen historischen Fachwerkhäusern und der 500 Jahre alten Andreaskirche, habe ich eine Gruppe amerikanischer Ausflügler getroffen. Das alles sind touristische Erfahrungen. Folklore. In mein Notizbuch habe ich schließlich gekritzelt, was Uhlbach spirituell, also horizontmäßig einzigartig macht. An dem topografischen Gebilde dieses Weindorfs erkennen wir so gut wie sonst nirgends die Geschichte und den Charakter Stuttgarts. Uhlbach öffnet sich mir wie ein von Dichter- und Malerhand erschaffenes Miniaturmodell der Stadt. Eingebettet in Natur, umgeben von Hügeln und Weinbergen, im Kessel von den rauesten Winden verschont, der Himmel nah, über dem Württemberg im benachbarten Rotenberg. Diese Landschaft zeichnet ein Bild davon, wie Ganz-Stuttgart geschaffen ist und wie dumm, unwissend und unsensibel die Immobilienhaie diese Topografie zerstören.

Der Flecken Rotenberg mit der berühmten königlichen Grabkapelle hoch über Uhlbach ist ein politisches Anhängsel von Untertürkheim. Uhlbach gehört zu Obertürkheim. Bei gutem Wetter kann man auch von Uhlbach aus die 1962 ohne Rücksicht auf die Natur erbaute Villa des großen Musikers Karl Münchinger sehen, in den Weinbergen am Rande Rotenbergs. Der Dirigent (1915 bis 1990) hat nach dem Krieg das später weltbedeutende Stuttgarter Kammerorchester gegründet und geleitet. Weiß der Teufel, warum – aber unter den Weinbergen geht zurzeit das Gerücht um, die Villa-Immobilie sei im Visier eines Swingerclubs. Um Irrtümern vorzubeugen: Branchenübliche Swingerclubs haben nichts mit der Musik von Glenn Miller oder Paulchen Kuhn zu tun. Sie sind Triebhäuser für unrhythmisch gelenkten Orchester-Sex. Wie gesagt, ein Gerücht zur Fasnetszeit.

Dann ging es hinauf zur Waldschenke Sieben Linden, auf die Weinberggipfel, Adresse Finsterklinge. Es lag noch Schnee, man fühlt sich beinahe wie in einem Wintersportgebiet. Im Garten des Ausflugslokals mit seinem Holz-Ambiente war der Tannenbaum Anfang Februar noch weihnachtlich geschmückt, im Innern hing bereits die Fasnetsdekoration. In der Gaststube war es gemütlich warm, die Fleischküchle mit Kartoffelsalat schmeckten ausgezeichnet. Vermutlich sind die vom schwäbischen Weingeist beseelten Wirtsleute bis heute von den Milliarden-Zockereien der EU-Banditen verschont geblieben. Die Pächterfamilie der Sieben Linden heißt Katranis, und so ging ich mit der Gewissheit ins Tal zurück: In Uhlbach funktioniert die griechische Wirtschaft einwandfrei.



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