Bauers Depeschen


Donnerstag, 07. Januar 2016, 1574. Depesche



 



Der ersten FLANEURSALON im neuen Jahr geht am Mittwoch, 20. Januar, im Stadtarchiv Stuttgart in Cannstatt über die Bühne. Diese Institution zog vor fünf Jahren in ihr heutiges Gebäude im Bellingweg 21 im Neckarpark ein - und feiert jetzt mit uns ihr kleines Jubiläum. Flaneursalon-Gäste sind Eric Gauthier & Jens-Peter Abele, Eva Letica Padilla und Roland Baisch & Frank Wekenmann. Vorverkauf: KARTEN FÜR CANNSTATT. Telefon: 01805/700 733.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



DER FLACHMANN

Das neue Jahr ist schon alt, wenn der Dreikönigstag vorbei ist. Wenn die Weihnachtsbäume entsorgt sind. Am 7. Januar ist auch das Dreikönigstreffen der FDP im Stuttgarter Opernhaus Geschichte, obschon die FDP in der Geschichte kaum noch eine Rolle spielt. Der jüngste Aufmarsch der Neoliberalen in der Oper hieß nicht „Dreikönigstreffen“, sondern „Dreikönigskundgebung“, womöglich auch deshalb, weil die Rechtspopulisten der AfD am selben Tag im Cannstatter Kursaal ihr „Alternatives Dreikönigstreffen“ abhielten. Was ein „alternatives“ Dreikönigstreffen ist, weiß ich nicht genau: Vermutlich zieht ein Haufen reinrassiger Weißer aus dem Abendland in den Kampf gegen die Weisen aus dem Morgenland.

Vor diesen Umtrieben floh ich mit der Linie 7 in einen Stadtteil, wo man Anfang Januar noch vielen Menschen ein frohes Weihnachtsfest wünschen kann, ohne sich als Gestriger zu blamieren. Mit der Bahn durch Zuffenhausen und Rot, an der Haltestelle Suttnerstraße steige ich aus. Gewidmet ist diese Straße der österreichischen Pazifistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner (1843 bis 1914). 1905 wurde sie als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 1892 hatte sie die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) gegründet, in die bald auch der Stuttgarter Stadtpfarrer Otto Umfrid eintrat. Stuttgart war Anfang des 20. Jahrhunderts das Zentrum der deutschen Friedensbewegung. Umfrid, 1857 in Nürtingen geboren, war ebenfalls Friedensnobelpreis-Kandidat, bis die Deutschen 1914 in den Ersten Weltkrieg zogen. Seine Kirche bekämpfte den evangelischen Theologen als „Friedenshetzer“; 1920 wurde er, schon erblindet, aber bis zu seinem Lebensende ungebrochen, auf dem Pragfriedhof beigesetzt.

So ist das in dieser Stadt. Kaum bist du aus der Bahn gestiegen, hast du ein Kapitel Geschichte vor Augen. Auch ein etwas neueres: An der Haltestelle Suttnerstraße blickt man auf die Rückseite einer BFT-Tankstelle, auf dem Dach steht ein etwas betagter Trabi. Jeder Trabi erinnert mich an 1989. Nicht nur, weil ich damals im November die Tage des Mauerfalls in Berlin erlebte.

Am 14. Juni 1989 kam Michail Gorbatschow zum Staatsbesuch nach Stuttgart. Ministerpräsident Lothar Späth hatte das Treffen als großes Volksfest inszenieren lassen. Gorbatschow war damals Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Seine Frau Raissa musste in der Alfdorfer Straße von Gaisburg eine „echte schwäbische Familie“ besuchen, die das Staatsministerium ausgesucht hatte. Gaisburg war aus dem Häuschen und die Welt aus den Fugen. Gorbatschow stand für Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung). 1990 wurde er sowjetischer Staatspräsident und erhielt wie Frau Suttner den Friedensnobelpreis.

Ich erinnere mich, dass am Abend von Gorbis Visite die DDR-Rockband Silly im Alten Schützenhaus in Heslach spielte. Als die Musiker ihren Bus ausluden, war er gut bestückt mit Kaviar und Krimsekt aus der UdSSR. Solche Dinge kaufst du heute in Freiberg, einer Großwohnsiedlung mit Hochhausblöcken aus den sechziger Jahren, wo inzwischen viele Menschen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion leben, eigene Vereine und Geschäfte haben. Der Mix-Markt in der Wallensteinstraße, in der Nähe der Suttner-Haltstelle, ist gut sortiert für die Mitbürger aus Russland, Kasachstan, der Ukraine usw. Gleich daneben ein russischer Laden namens Eck. Eine Straßenbahnstation zuvor, sie heißt Himmelsleiter, steigt man aus, um im Lebensmittelmarkt namens Kliver in der Adalbert-Stifter-Straße einzukaufen. Allein die Fischtheke ist eine Sensation. Es gibt in Freiberg auch einen Laden für russische Bücher, CDs und DVDs, und in den vergangenen Tagen herrschte überall Hochbetrieb. Die russischen Christen haben gestern, am 6. Januar, ihr Heiligabend gefeiert. Heute, am Donnerstag, ist ihr Weihnachtsfeiertag. Das Fest wurde nach dem Zusammenbruch der UdSSR wiederbelebt.

Vor dem Mix-Markt plaudere ich mit Evgenia Ritter, geboren in Nischni Nowgorod, einer Großstadt 400 Kilometer nördlich von Moskau. Seit sechs Jahren lebt sie in Freiberg. Mein Mann, sagt sie, „ist Schwabe“. Sie hat Buchweizenmehl gekauft, für die Blinis, die russischen Pfannkuchen, gut passend zum Kaviar. Evgenia ist Malerin, macht traditionelle Ölgemälde und besucht regelmäßig die Russische Kirche in der Hegelstraße, weit weg im Westen.

Eine Mitternachtsmesse am Heiligen Abend, erzählt sie, dauert vier bis fünf Stunden. Morgens um fünf trifft man sich dann zum Frühstück in einem Kirchensaal der Nachbarschaft. Vor Weihnachten aber müssen die orthodoxen Christen 40 Tage lang fasten. Erst wenn an Heiligabend am Himmel der erste Stern aufgeht, sagt Evgenia, darf wieder alles gegessen werden.

In Freiberg leben mehr als 7000 Menschen auf einer Fläche von 88,5 Hektar (im Bezirkshauptsitz Mühlhausen nur 3000 auf 465 Hektar). Ich werde mir weiß Gott kein Urteil über das Leben in Freiberg erlauben, nur weil ich mich ein wenig umgeschaut habe. Bin nur immer wieder erstaunt, wie international diese Stadt geworden ist. Und wie wenig wir davon mitbekommen.

Auf der Rückfahrt fahre ich an der Haltestelle Borsigstraße vorbei. Steigt man an dieser Station aus, sind es nur wenige Minuten bis zu Feuerbachs türkischem Viertel an der Mauserstraße. All diese Dinge konnte sich kaum einer vorstellen, als Gorbatschow Stuttgart besuchte, keine fünf Monate, bevor die Berliner Mauer fiel.

Ich könnte noch ein wenig von dem Freiberger Russen erzählen, der mich mit übler Hetze gegen Flüchtlinge empfing, obwohl er selbst erst vor wenigen Jahren nach Deutschland kam. Aber wozu. Oft genug ist das Ungewohnte im Leben buchstäblich komisch. Ich kehrte aus Freiberg zurück mit ein paar russisch beschrifteten Döschen Lachskaviar, mit der CD einer russisch singenden Blues-Band – und einem Flachmann mit erregendem Design: Das Bild auf der Flaschentasche zeigt einen Mann mit Camouflage-Klamotten, Fischertarnhut und Angel an einem reißenden Fluss. Der Mann heißt Putin.



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