Bauers Depeschen


Dienstag, 11. September 2012, 974. Depesche

NOTIZ

Neue Textsammlung im Druck: "Im Kessel brummt der Bürger King - Spazieren und über Zäune gehen in Stuttgart". Buchvorstellung am 18. November.

 

ALLES LIVE

Der Flaneursalon ist eine Mix-Show mit Popsongs, Rap und vorgetragenen Geschichten - ein Live-Abend mit Humor, schnellen Schnitten und reichlich Abwechslung. Am Dienstag, 25. September, sind wir im Speakeasy, Rotebühlpatz 11 - mit dem Rapper Toba Borke und seinem Beatboxer Pheel, mit der Balladensängerin Dacia Bridges und ihrem Gitarristen sowie dem Sänger/Songschreiber Zam Helga. Karten zu 12 € gibt es Di - Sa im Plattencafé Ratzer Records im Leonhardsviertel (neben dem Brunnenwirt) und im Internet: EVENTBÜRO



SOUNDTRACK DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



WAS SICH GEHÖRT

Neulich saß ich im Garten des Restaurants Drei Schwestern in Berlin-Kreuzberg und guckte in die Luft. Das alte Haus wurde 1850 erbaut, es heißt Bethanien, war mal ein Diakonissen-Krankenhaus und ist heute ein schönes Künstlerhaus.Theodor Fontane hat an diesem Ort als Apotheker gearbeitet. Nachdem ich eine Weile in die Luft geguckt hatte, blätterte ich in Berliner Stadtmagazinen, wollte wissen, was man in der Großstadt heute den lieben, langen Tag so treibt.

Zurzeit gibt es die Aktion „Back To The Kiez“. Junge Menschen ziehen in kleinen Teams mit einem Bierkasten von Wulle durch die Stadt. Ziel ihres Wettbewerbs ist es, „die 20 Bierflaschen gegen möglichst tolle Dinge zu tauschen und dabei Nachbarn und Umgebung kennenzulernen“. Auf diesem Weg sollen sie erfahren, dass man nicht viel Kohle braucht, um mit Freunden in der Großstadt Spaß zu haben. Das Publikum – es ist auch im Internet dabei – prämiert am Ende das Team mit dem größten Tauscherfolg. Die Beute wandert in den Schenkladen von Friedrichshain.

Leider hatte ich keine Zeit zu prüfen, was man für zwanzig Pullen Wulle kriegen kann, außer einem Affen. Stolz aber darf man sein auf unser heimisches Bier. Ganz Berlin ruft: Wir wollen Wulle. Der Brauereigründer Ernst Wulle war ein guter Mann, er wusste, was sich gehört. Wenn ich am Pragfriedhof vorbeikomme, werde ich meine Mütze ziehen und ihm die Sache erzählen.

In Stuttgart begegnen mir oft kleine Teams mit einer Kiste Bier. Allerdings hat mich nie einer gefragt, ob ich etwas gegen eine Flasche Wulle tauschen wolle, vielleicht eine Kiste Beck’s. Die Schwestern und Brüder trinken ihre Kiste Bier lieber selber aus, spülen mit einem Fläschchen Wodka nach und ziehen weiter in ihren Club auf dem Bosch-Areal, auf die Theodor-Heuss-Straße oder­ zum Volksfest.

Auf diese Weise lernen sie kaum Nachbarn und Umgebung kennen, entdecken aber die Krankenhäuser und Ausnüchterungszellen ihrer Heimat. Immer wieder gibt es Stress mit der Polizei. Der Herr Ordnungsbürgermeister, früher selbst Polizeipräsident, hat neulich gesagt: „Ich möchte, dass wieder deutlicher wird, was sich in Stuttgart gehört und was nicht.“

Man nennt das Amtsanmaßung; der Satz handelt von Sitte, Anstand und Moral. Politiker, im Fall des Ordnungsbürgermeisters einer von der CDU, sind bekannt für ihr Leben mit Sitte, Anstand und Moral. Politiker wissen, was sich gehört. Um sittsames Verhalten zu üben, haben sie im Lauf der Jahre alles ­dafür getan, im Sommer keinen Tag in der Stadt ohne Straßenfest verstreichen zu ­lassen. Jeder mit ein wenig Kenntnis von der Gastronomie weiß, dass nur ständig steigender Alkoholkonsum Überleben bzw. Gewinne der Gast- und Festwirte sichert. Was als „Geselligkeit“ verniedlicht wird, ist ein knallhartes Geschäft.

In diesem Klima zählt nicht, was „sich gehört“. Die Straße ist der billigste Partyplatz, auch für die, denen nicht viel gehört. Auf der Straße kursiert Discounter-Stoff, bevor das Partyvolk bei Festen, in Clubs und Zelten das Finale sucht.

Welche Motive sich hinter den aktuellen Alkoholturbulenzen unter jungen Menschen in den Straßen verbergen, wage ich nicht zu beurteilen. Ein schwieriges Feld. Man müsste es erforschen und sollte den Ordnungsbürgermeister losschicken mit einer Kiste Wulle unterm Arm. Mal sehen, was er be­käme, wenn er zu den braven ­Leuten auf den Kiez ginge: ­Guten Tag, ich bin der Herr Ordnungsbürgermeister aus dem Rathaus, was würden Sie gegen eine Flasche Wulle tauschen? Die Leute würden ihre Ranking-Liste über das Ansehen der Berufe prüfen und sagen: Soso, Berufs­politiker sind Sie, Herr Ordnungsbürger­­meister, Sie rangieren ­hinter Versicherungsvertretern, Telefon­anbietern und Reklame­fritzen am Tabellenschwanz der Was-sich-gehört-Liga, Ihnen würde ich nicht mal meinen Gebraucht­wagen verkaufen.

Der Ordnungsbürgermeister fordert „Alkoholkonsumverbote“ auf öffentlichen Plätzen. Bekanntlich haben vorzugsweise Verbote in den vergangenen paar Tausend Jahren die Drogenprobleme dieser Welt gelöst. Man denke an die amerikanische Prohibition. Bis heute freut sich die Stuttgarter Mafia über die Schmuggelkohle.

Politiker machen sich nicht mehr die ­Mühe herauszufinden, warum die Dinge laufen, wie sie laufen. Sie wissen aber, was sich gehört, und vor allem, wem was gehört. Tausche zwanzig Politiker gegen ein Wulle.



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