Bauers Depeschen


Montag, 07. Mai 2012, 904. Depesche



NOCH KARTEN

FÜR DEN FLANEURSALON AN DIESEM MITTWOCH

Noch gibt es freie Plätze für den Flaneursalon an diesem Mittwoch in der Friedenau, im Wirtshaussaal von Stuttgart-Ostheim. Mit Stefan Hiss, Roland Baisch, Anja Binder & Jens-Peter Abele. Beginn 20 Uhr. Einlass 18.30 Uhr. Reservierungen: 07 11 / 2 62 69 24.



SOUNDTRACK DES TAGES



StN-Kolumne:



MIT HARRY IN DER DDR

Es ist Mai und feucht. Frühsommer in der Stadt und „Literatursommer“ im ganzen Land. Der Literatursommer ist eine Veranstaltungsreihe der Baden-Württemberg Stiftung. Lesen und Schreiben ist nicht gerade ein umwerfendes Thema für einen lesenden und schreibenden Spaziergänger, der im Sprachgebrauch der Zukünftigen lieber Schwabstraße und Straßenbahn geht, als auf Sofa und Schreibtischstuhl sitzt.

Kürzlich habe ich es bis zum Gaisburger Waldheim Raichberg geschafft. Im Biergarten sprach die OB-Kandidatin der SPD, sie trug eine Art ungestreifter Matrosenanzug. Wenn Politiker reden, bereichert das nicht unbedingt den Literatursommer. Aber ihre Reden sind nützlich, weil der Zu­hörer nicht lesen und schreiben können muss, um zu verstehen, worum es geht. Es geht immer um die Zukunft. Noch nie in der Geschichte der Menschheit, nicht mal bei Habakuk und Haggai, wurde so viel Zukunft in die Gegenwart gepresst wie heute. Das Zukunftsgetue ist schon deshalb extrem erhellend, weil ja kein Schwein die Zukunft kennt. Außer den Hellsehern, die sie uns mit S 21 versauen.

Das Zukunftsgeschrei ist ein Marketingbluff. Eine billige Prophetennummer, seit Psychologen und Neurologen herausgefunden haben, dass der größte Teil des menschlichen Gehirns nicht, wie die meisten Leute glauben, mit Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt ist. Das Hirn ist vollgestopft mit Zukunftsfragen und -ängsten. Deshalb operieren Propaganda- und Reklametrupps bis zum Erbrechen mit dem Wort Zukunft.

Auch die BW-Stiftung macht das so. Der nebulöse Laden steht unter der Leitung von Herrn Dahl. Dahl war mal Oettingers Regierungssprecher und hätte, als Oettinger nichts mehr zu sagen hatte, keine Zukunft gehabt, hätte man sie ihm nicht schnurstracks mit einem Zukunftsgeschäft ge­sichert. Weil seine Stiftung umzieht, hängt ein Riesentransparent an der Hauswand: „Die Zukunft hat eine neue Adresse.“ Neuerdings geht die Zukunft Kriegsbergstraße, auf ihrem Stiftungsbanner steht der alte, pfiffige „Leitsatz“: „Wir stiften Zukunft.“ Schlagzeilen gemacht hat die Stiftung bekanntlich, als Dahl den VfB-Präsidenten Mäuser als Schirmherrn der Aktion „Kicken und Lesen“ feuern musste, nachdem der zukunftsorientierte Fußballboss mit Marketing-Vergangenheit den letzten lesenden Kindern einen Tipp für morgen gegeben hatte. Goethe und Schiller, sagte er, seien voll gestrig.

Als Spaziergänger lese ich zu wenig. Auch deshalb, weil viel Geschriebenes in der Vergangenheit spielt und deshalb nichts taugt für die Zukunft der „marktorientierten ­Demokratie“, wie Frau Merkel den Kapitalismus nennt. Die marktorientierte Demokratie ist in diesem Literatursommer heftig unter Beschuss geraten. Stephen King, der amerikanische Thriller-Autor und begnadete Schreiblehrer („Das Leben und das Schreiben“), beschwerte sich, Reichen wie ihm würden viel zu wenig Steuern ab­geknöpft: „In Amerika hält sich der Geldadel für heilig. Dabei sind die Reichen so langweilig wie alte, tote Hundescheiße.“

Gegenwärtig lese ich „My Song“, die Autobiografie des amerikanischen Bürgerrechtlers und Entertainers Harry Belafonte. Dabei ist mir eingefallen, wie ich Herrn Belafonte mal live erlebt habe. Das war 1983 im Palast der Republik, Ostberlin, Hauptstadt der DDR. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ), die Nachwuchsorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), veranstaltete ihr „Fest des Friedens“. Auf die Bühne gingen unter anderem Udo Lindenberg und sein Panikorchester – und Harry Belafonte. Unsereins saß verstört im Publikum, um ihn herum nichts als Blauhemden der FDJ. Vor der Tür skandierten junge Menschen: „Wir wollen rein!“.

Der Palast der Republik ist längst ab­gerissen, und nur die Stasi-Hunde wissen noch, wer die FDJ war. Für die Propaganda-Abteilung der FDJ hat einst Frau Merkel gearbeitet. Später haben die demonstrierenden Jungs und Mädels vom Palast der ­Republik ihren Slogan geändert. 1989, von Harry Belafontes DDR-Auftritt aus gesehen also in der Zukunft, riefen sie: „Wir wollen raus!“. Frau Merkel ging unverzüglich mit, und weil man bei der Propaganda alles über die Zukunft lernt, wurde sie bald darauf Kanzlerin der kompletten Republik.

Heute ist von diesen gestrigen Dingen nicht mehr viel bekannt, und wenn ein ­Komiker auf der Bühne von der Blau-Bluse Merkel erzählt, lachen und raunen die Leute, als hätte der Komiker alles erfunden. Es ist also nicht falsch, trotz Literatursommer ein Buch zur Hand zu nehmen. Wenn schon die Zukunft stiften geht, hat man wenigstens Spaß an der Vergangenheit.



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