Bauers Depeschen


Dienstag, 10. August 2010, 556. Depesche



ES GEHT WEITER

Die Kickers-Sache ist abgehakt, alles gesagt. Den "Stuttgarter Appell", siehe Depesche vom 6. August, haben inzwischen über 10 000 Leute unterschrieben. Heute erlaube ich mir eine kurze Depeschen-Pause, nicht ohne schleichzuwerben, dass der nächste Flaneursalon am Dienstag, 14. September, im schönen Wirtshaus Schlesinger über die Bühne geht. Mit Stefan Hiss, Michael Gaedt, Dacia Bridges & Alex Scholpp. Karten gibt es bereits via Telefon und an der Theke. TERMINE

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Heute ist in den Stuttgarter Nachrichten dieser Text zu lesen, ein Beitrag für die Serie "Brückenschlag":



PFEILER DER WAHRHEIT

Die Zahnradbahn über der B 27 macht den Blick frei für die Schönheit der Stadt

Von Joe Bauer

Knapp fünf Meter über der Shell-Tankstelle und der Bundesstraße 27, nicht weit vom Himmel über Stuttgart, haben wir auf dem schmalen Grat zwischen Gleis und Geländer Position bezogen. Auf der Zahnstange über den Schwellen kann ich die frische Schmiere fast riechen. Die Herren Schmid (vom Tiefbauamt), Herold und Knupfer (beide von der SSB) geben mir Begleitschutz in orangefarbenen Sicherheitswesten. Normalerweise haben Fußgänger da oben nichts zu suchen, und ich könnte schwören: Als die Bahn kommt, muss ich den Bauch einziehen, damit sie mich nicht an der Gürtelschnalle erwischt und mit hoch schleppt nach Degerloch.

Etwas gesunde Einbildung auf einem der aufregendsten Hügel der Stadt kann nicht schaden, schließlich präsentiert der Zug vor meiner Nase die Königsklasse des SSB-Fuhrparks. Wir stehen auf der Zahnradbahnbrücke an der Oberen Weinsteige, sie führt über die Neue Weinsteige, die B 27, eine unserer famosen Stadtautobahnen.

Die Zahnradbahn ist in der Stadt als Zacke bekannt, die Älteren nennen sie auch "Zacketse", und wenn es früher an der Strecke ein Jubiläum zu feiern gab, sprach man von der "Zacketse-Hocketse". Seltsam, dass der Volksmund unserem gelb lackierten, seit jeher um würdevolles Tempo bemühten Gipfelstürmer nie einen originelleren Spitznamen verpasst hat.

Die Zacke-Linie ist 126 Jahre alt. Das Fahrzeug trägt die Nummer zehn auf der Stirn und ist nicht nur deshalb Chef aller Bahnen und Busse. Ein Fahrer muss diesen Zug feinfühliger starten und bremsen als die übliche Stadtbahn, will er nicht als Rumpelpilot in Verruf geraten.

Nicht einmal die bis zu siebeneinhalb Meter hohe Brücke mit ihren elf Prozent Gefälle auf der Steige hat einen anständigen Kosenamen. Eingeweihte kennen sie noch als "Türkenbrücke"; angeblich kamen einige der Teile des ursprünglichen Bauwerks von 1884 aus einem geplatzten Projekt in Izmir. Die Türkenbrücke hat man 1965, nach neunmonatiger Sperrung, durch die heutige Betonkonstruktion ersetzt. Gustav Epple aus Degerloch war der Baumeister. Eine Million Mark kostete die neue Brücke.

Von den Schnäppchen aus Izmir sind nur Erinnerungen geblieben. Vielleicht müsste man einen Ideenwettbewerb ausschreiben. Man kann die Leute mit Stuttgarts einzigartigem Berg- und Tal-Express doch nicht ewig zu einer Namenlosen kutschieren, zumal die auf ihren Stelzen (auch Pfeiler genannt) eine ausgesprochen gute Figur macht. Sie ist zwar nicht so graziös wie die Bahnbrücke am Marienplatz, diese leichtfüßige, schlanke Empfangsdame der Zacke-Linie, aber stattlich und markant wie eine alte Diva.

Das Bauwerk aus Spannbeton an der Oberen Weinsteige beginnt am Kilometer 1,40 der 2211 Meter langen Strecke und ist alles andere als nur ein funktionales Monstrum aus dem Repertoire der Hohlkastenbrücken. Am Haigst, dem Viertel auf dem Weg nach Degerloch, erhebt sich etwas Großes: Stuttgarts Brücke zur Wahrheit.

Erst wer vom Marienplatz mit der Zahnradbahn zum Degerlocher Albplatz und wieder hinunter fährt, erkennt in vollem Umfang die topografischen Schönheiten und architektonischen Sünden dieser Stadt. Das erregendste Bild erlebt der Passagier auf der 118 Meter langen Brücke, wenn sie über die Straße und die Tankstelle führt: Selten schaut man so tief in den Kessel und so weit über die Ränder hinaus. Nicht umsonst gefällt diese Tour auf Rädern Hochbahnerfahrenen Touristen aus Japan und Amerika. Wissend und staunend gleiten sie dahin zwischen wohnlichen Häusern und wildem Grün. Sie hören, wie Blätter und Zweige Karosserie und Fenster raschelnd streifen, und sie sehen, wie charmant der Stadtkern gebettet ist. Wer sich am Haigst eine Pause gönnt, bis die nächste Zacke kommt, hört mit etwas Glück die Kirchenglocke schlagen. Romantischer Soundtrack eines Railroadmovie für Stadteroberer.

Über der Brücke ragt der Fernsehturm gen Himmel, in der Ferne erkennt man den Monte Scherbelino und die Vaihinger Universität, im Tal das Rathaus, das Kunstgebäude, den Bahnhof. Die Stadt, wie sie leibt und lebt und bebt. Sie ist verdammt kurz, die Tour über die Brücke der Wahrheit, aber sie dauert zum Glück länger als der Alibi-Trip der Stadtbahn auf der Weinsteige. Dort rauscht der Zug nur ein paar Sekunden lang über die Erdoberfläche, bevor er wieder in den Höhlen unserer unglückseligen Stadtplanung verschwindet, um wie überall den Autos Platz zu machen.

Wie blind muss man gewesen sein, als man beschloss, die Bahn zu versenken und den Blick für die Autofahrer freizugeben. Sei jeher scheint ein Tunnelfetischismus in der Stadt zu herrschen, und die Augen der Politiker sind auf Standlicht geschaltet. Jahrzehntelang gab es sogar Pläne, auch die Zahnradbahn in die Tiefe zu verbannen. Gott sei Dank hat man Anfang der achtziger Jahre davon abgelassen.

Würde die Zahnradbahn nicht allein vom Strom der Hochleitungen über die Brücke bewegt, müssten wir mit den eigenen Beinen nachhelfen, wäre das Bild perfekt: Willkommen in der Minuten-Draisine.

Als gelbe Minna, als elektrische Kutsche der Gemütlichkeit lebt die moderne Zahnradbahn nur in Anekdoten fort. Sie gilt heute als zuverlässigstes SSB-Fahrzeug überhaupt, auch wenn sie manchmal zickt wie jede bessere Dame. 2000 Menschen steigen täglich ein und aus, darunter viele Radsportler, Mountainbike-Artisten, die ihre Räder auf der Lore des Zugs transportieren.

"Die Zacke fährt auch bei Wetter, wenn andere Bahnen und Busse nicht mehr können", sagt Herr Schmid. Im Winter ist die Hochleitung der Strecke beheizt. Keiner, der über die Brücke an der Oberen Weinsteige rollt, muss Angst um seine Gesundheit haben. Die Zacke fuhr bisher unfallfrei.

Zu ihrem 125. Geburtstag hat Hans-Joachim Knupfer "Die Bahn der schönen Aussicht" in einem Buch porträtiert, und auch er kann sich nur an einen einzigen Zwischenfall "auf der schönsten Panoramabrücke im SSB-Netz" erinnern: 1964 geriet ein betrunkener Autofahrer mit seinem Wagen auf die Gleise der Zacke und rollte, gut in der Spur, den Hügel hinab. Erst auf der Brücke blieb er stehen. Zu einer Karambolage kam es nicht. Es war spät nachts. Die Zacke fährt abends nur bis Viertel vor neun.



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