Bauers Depeschen


Montag, 15. September 2008, 224. Depesche



Weil wir am Dienstag, dem 14. Oktober, zum zehnten Geburtstag des Flaneursalons im Theaterhaus sind, habe ich gegrübelt, was ich vor zehn Jahren dem Publikum vorgelesen habe. Mir fiel diese Geschichte ein:



DIE BRÜCKE

VON GAISBOURG



Mitten in dieser Sommernacht des Jahres 1998 stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Er holte den Fernseher - er war noch warm - aus dem Bett, packte die Champagnerflaschen zusammen und sagte : “Rien ne va plus.”

Ich sagte “Vergelt’s Gott”, tunnelte den Kretin mit einem Samba-Schritt und riss Ronaldos Starschnitt von der Wand. Ich hatte die letzte Kohle auf Brasilien gesetzt, und das Spiel war aus.

Ronaldo im Finale magenkrank. Von den eigenen Winden verweht. War er das gewesen, der Pfiff Gottes?

Draußen kurvten immer noch hupende Vehikel durch die Straßen, nackte Oberkörper ragten aus den offenen Schiebedächern: der Auto-Torso.

Zwotausend Franzosen leben in der Stadt. Jeder muss zwei Röno mit je zwei Tröten besitzen. Zu wenig jedoch für den Korso der Weltmeister von 1998, und so hatten die Frösche auch Kroaten und gegnerische Brasilianer engagiert. Dieser Aufmarsch wiederum motivierte die Deutschen, mit ihren Geländewagen hinterherzurasen und von hinten in den Mann zu grätschen. “Sieg! Sieg! Sieg!”, brüllten sie, und keiner wusste, warum.

Selten zuvor hatte Stuttgart eine solche ethnische Fusion erlebt. Weiß und Schwarz, Gelb-Grün und Blau-Weiß-Rot, Rot-Weiß und Schwarz-Rot-Gold. Allez, les bleues!

Auf dem Rotebühlplatz sangen sie “O Champs-Elysées”, die deutsche Volksseele kochte, auf der Königstraße schnaubte wütend der Asphalt. Auf dem Karlsplatz pisste ein Clochard, müde vom lausigen Fang auf dem Hamburger Fischmark, Kaiser Wilhelm ans Standbein. Der satte Strahl Richtung Denkmal zeichnete die Kurven des Triumphbogens in die Luft.

Der Morgen nahte, die Stadt erwachte. Eine ausgerissene Seite der Zeitung “Liberation” wirbelte übers Trottoir. Ein Transvestit huschte durch die Schatten der Leonhardstraße. Aus der Bar Schinderhannes drang die Presslufthammer-Stimme von Madame: “Je ne regrette rien.”

Ich auch nicht, sagte ich und gab Ronaldo aus der Ferne einen Tritt. Von hinten, versteht sich, deutsche Tugend. Der Schiri bemerkte nichts.

Es war Zeit, im Morgengrauen die Straßenseite und die Farben zu wechseln. Vergesst Brasilia.

Ich ging zum Bäcker Schmälzle, erbettelte zwo Croissants und ein Baguette und beschloss, ein Mofa zu klauen. Wie sonst könnte man ein Baguette nach Hause fahren?

Ich hatte Lust auf einen Schluck Pernod. Die Auswahl an Bars, die in der Stadt französisch bedienen, ist groß. Am Moulin Rouge, Königstraße, hingen die Flügel lahm im Morgenwind. Das Rotlicht und die Augen der Tänzerinnen waren erloschen. Am Eingang hielt ein Fußball-Missionar die deutsche Stellung. Die Franzosen, sagte er, hätten wir heute weggeblasen. In diesem Augenblick hupte es aus dem Kroaten-Block. Der Missionar machte die Räume eng und grätschte breitbeinig nach Hause.

“Die Brasilianer”, fuhr Heribert Faßbenders O-Ton zur Erde nieder, “verlieren zu viele Zweikämpfe im Duell Mann gegen Mann.”

Mir wurde klar, dass es richtig war, mit den Franzosen zu kollaborieren. Ich verdrückte Croissant Nummer zwo, nahm einen Schluck Pernod und stieß in der Unterführung mit Mayer-Vorfelder zusammen. Der hatte gerade eine filterlose Roth-Händle mit dem Stiefelabsatz zermalmt und sich eine Gauloise ins Gesicht gesteckt. “Merde”, stammelte er. Es klang wie “Berti”. "Auf die Blauen!" sagte ich, reichte ihm meinen Flachmann und verabschiedete mich auf Französisch.

Auf der Brücke von Gaisbourg, Rive gauche, hatten sich inzwischen alle Akkordeonspieler der Stadt versammelt, auch Stefan Hiss. Die Marsellaise erklang, sie traf mich hart wie ein Kopfstoß von Zidane in der Magengrube, wo zwo Croissants von Schmälzle schlummerten. Mir dämmerte, dass man mit diesem Song im Ohr niemals verlieren und schon gar nicht schlafen kann.

Allons enfants! krähte gallig der Hahn: Es war der 14. Juli, französischer Nationalfeiertag.

Ronaldos Hosen hingen schlaff auf halbmast.



- Achtung, Flaneursalon in Fellbach bereits am Freitag, 19. September!!!



- Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten:

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