Bauers Depeschen


Donnerstag, 21. August 2008, 214. Depesche



ABTEILUNG

FUSSBALL & MUSIK





Die Geschichte des legendären Radio-Barth

am Stuttgarter Rotebühlplatz stand nie auf dieser Seite -

jetzt auf mehrfachen Wunsch die überarbeitete Fassung.





WARUM sollte sich etwas ändern. Wir sitzen im vierten Stock im Kaufhaus Breuninger. Bei Breuninger hat Rolf M. Lober vor über 50 Jahren seine Lehre als Textilkaufmann gemacht. In der Stadt ist er als „Mucki“ bekannt, und ich kann sagen, Mucki kennt seine Stadt. Heute ist er 70. Nicht so wichtig, was er macht oder nicht macht. Früher, ja früher, war er ein talentierter Trommler und begabter Lebenskünstler.

Wer wie Mucki Rhythmus im Blut und Soul in der Hose hatte, traf sich mit den Freunde beim Radio-Barth am Rotebühplatz. In den Sechzigern, Siebzigern und frühen Achtzigern versammelten sich dort täglich Typen, die man Jungs nennt, und peilten in dem Haus mit der 35-Meter-Antenne auf dem Dach die Lage.

Mucki und ich ziehen durch die Stadt, auf der Suche nach Herbert Kühner. Man kann nichts über Radio-Barth erzählen, ohne Herbert Kühner zu fragen. Er war der beste und berühmteste Plattenverkäufer der Stadt. Zweimal in der Woche las er den „Kicker“. Mein Gott, was ist aus Herberts blauen Göttern geworden, aus den Stuttgarter Kickers.

Irgendwo im Westen stöbern wir HK auf; er arbeitet in einer Pizzeria. Es ist verdammt früh, halb elf, und Herbert hat die Kellnerschürze um. Das hat ein gelernter Nachtmensch nicht verdient. Kühner, einst nebenberuflich DJ im Don Quichotte, kommt an diesem Tag um die älteste Platte des Unterhaltungsgeschäfts nicht herum: „Das waren noch Zeiten“, werden wir sagen, das ist der Refrain. Damals waren die Zeiten für Herbert besser.

Die Tour geht weiter. Ecke Wilhelm-/Olgastraße. Hier residiert Hans Schweizer in seinem vierstöckigen Musikhaus. Von 1955 bis 1968 hat er in der Instrumentenabteilung bei Radio-Barth gearbeitet. Er war ein Pionier der elektronischen Musik. Wenn es Schweizer wieder mal geschafft hatte, eine Ladung amerikanischer Gitarren und Orgeln über den Panama-Kanal nach Stuttgart zu importieren, kamen Musiker aus ganz Europa angereist. Sie brauchten eine Fender wie Jimi Hendrix, eine Hammond wie Brian Auger oder ein Keyboard wie Wolfgang Dauner.

RADIO-BARTH, Stuttgart, war in den Sechzigern und Siebzigern einer der wichtigsten Umschlagplätze der Republik. Geschäftsbereiche: Musik und Fußball. Wenn kein Training war, kamen die Stuttgarter Profis und „die Halbtagssportler mit Steuerkarte“, wie der Kickers-Torhüter und Barth-Gänger Rolf Gerstenlauer sagte. Die Welt war nie gerecht. „Die Blauen haben damals neun Kilo verdient“, sagt Mucki, „die Roten zwanzig Mille.“ Zu deutsch: Ein Kickers-Spieler machte neunhundert Mark, ein VfB-Star zwanzig Tausender im Monat.

Kohle ist nicht alles. Man muss auch darüber reden. Immer am frühen Nachmittag trafen sich die Jungs in Kühners Plattenecke beim Radio-Barth. Rock- und Jazzfans, Musiker, Fußballgrößen wie Dieter Renner, Horst Haug, Buffy Ettmayer, Ottmar Hitzfeld, Hansi Müller, die Förster-Brüder, Dieter Schwemmle.

Mensch, Schwemmle. Hat in den Siebzigern als junger VfB-Profi Franz Beckenbauer zweimal in einem Spiel getunnelt. Den Kaiser, die denkbar schlimmste Majestätsbeleidigung. Das hätte Schwemmle beinahe die Karriere gekostet, auch weil er einem Fernsehreporter sagte, Beckenbauer sei nicht schwerer zu tunneln als einer aus Heslach. Später hat er bei Twente Enschede, in Bellinzona, in Bochum gespielt, irgendwann auch in Fernost. Einmal hat er mir erzählt, wie er den ersten Frontalzusammenstoß seines Lebens gesehen hat – von zwei Fahrrädern, in Hongkong.

Herbert Kühner, einst ein Jazz-Experte erster Güte, der auch dann noch eine unbekannte Version von „In The Mood For Love“ auftreiben konnte, wenn ein bettelnder Sammler schon drei Dutzend Versionen zu Hause hatte, gab den Fußballern Lebenshilfe. Wenn sie schon nicht Fußball spielen können, hat er gesagt, dann sollen sie wenigstens bei der Musik ihren Kick haben. Jeder Neuankömmling im Gewerbe wurde zu Kühner geschickt und damit in die Gesetze der Stadt eingeweiht.

------------------------------------------------------------------------------------------ Achtung, Werbe-Blog! Jubiläumsshow Zehn Jahre Flaneursalon:

Dienstag, 14. Oktober, Theaterhaus. Mit Los Gigantes,

Michael Gaedt & Michael Schulig, Dacia Bridges & Alex Scholpp.

------------------------------------------------------------------------------------------

NÄCHSTER KANDIDAT: Gunther Scheuthle, 65, Drehbuchautor fürs Fernsehen. 1968 arbeitete er in der Klassikabteilung von Barth. „Barth war Stuttgarts kulturelles Zentrum“, sagt er, „hier war das Leben.“ Barth war Amerika. Entsprechend kläglich scheiterte Opernfreund Scheuthle beim Versuch, den Kollegen im Laden die Vorzüge der sozialistischen Weltrevolution nahe zu bringen. Rot war nur der VfB.

Das Haus vom Radio-Barth am Rotebühlplatz war 1966 eröffnet worden, Paul Stohrer zeichnete für die Zweckarchitektur mit den Bauhaus-Anleihen verantworlich.

Ende 1995 machte Radio-Barth dicht. Zu wenig Umsatz. Danach schraubten ein paar Typen zwei Buchstaben des Firmenschilds ab und erfanden so einen der klügsten Kneipennamen aller Zeiten. Aus dem Radio-Barth wurde die Radio-Bar, Zentrum für die junge Musikszene, Brutkasten vieler Hip-Hop-Talente. Radio-Bar lautete die letzte Konsequenz. Bei Barth hatten immer die besten Bar-Hocker und Kopf-Hörer der Stadt verkehrt, und noch heute tragen viele Kneipen in der Stadt die Handschrift der Radio-Bar-Belegschaft.

Im neuen Jahrtausend begannen die Abbrucharbeiten.Das Haus musste einem sogenannten Geschäftszentrum weichen, Rudi Häusslers City Plaza. Schauen Sie sich an, was daraus geworden ist. Ein architektonischer Schandfleck im Dreispitz-Format

Als die Abrissbirne zuschlug, schauten die Veteranen weg. Es war zum Heulen. Mit Barth wurde Geschichte zu Grabe getragen, begleitet vom Blues guter Erinnerungen.

Die Geschichten von damals erzählt man sich noch heute, die Geschichte des Berliner Plattenimporteurs Helmut Marcuse. Der dealte von Paris bis New York im großen Stil mit Vinyl. Wenn er in Europa einen guten Fang gemacht hatte, setzte er seinen Texashut auf, stieg in seinen amerikanische Van und raste nonstop zum Radio-Barth nach Stuttgart. Dort überließ er einen Teil seiner Beute Mucki, Herbert & Co. für einen Fünfer pro Stück.

Noch heute treffe ich manchmal Mucki in der Stadt, und wenn er erzählt, klingt es, als würden die alten Platten hängen.



- Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten:

www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer



Kontakt





 

 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·