Bauers Depeschen


Donnerstag, 23. November 2017, 1876. Depesche



Für den FLANEURSALON am 12. 12. im Schlesinger gibt es noch wenige Karten.



Ein bisschen anregender Austausch wäre schön:

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MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

GROSSE OPER

Vier Wochen vor Weihnachten ist es wieder Zeit, über Gleise zu gehen, Schotter unter den Stiefeln zu spüren und Eisenbahnwaggons zu entern. Am Sonntag fuhr ich mit der Straßenbahn hinaus in die unendlichen Weiten der Weltstadt Stuttgart.

Nach Kurzausflügen weise ich regelmäßig in meiner Kolumne darauf hin, wie klein der Kessel in Wahrheit ist, wie kurz die Strecken in die Stadtteile mit der Straßenbahn sind – von der S-Bahn zu schweigen, falls sie mal fährt. Neugereut und Botnang, Feuerbach und Möhringen sind vom Zentrum schneller per Bahn zu erreichen als deine Eckkneipe zu Fuß. Ich greife mir an den Kopf, wenn offizielle und selbst ernannte Stadtplaner dauernd so tun, als läge jeder Ort abseits von Schlossplatz und Breuninger irgendwo im Nichts – siehe Cannstatt. Was für ein enger, ignoranter Blick auf eine enge Stadt. Provinzialität erkennst du am Bemühen, Provinz mit Großmannssucht zu verdrängen, statt sich der Realität mit Humor und Fantasie zu stellen.

Mein Ziel ist das frühere Paketpostamt im Rosensteinpark, einen Steinwurf vom Naturkundemuseum entfernt. Das Areal hat sich als Interimslösung für die Oper durchgesetzt, obwohl einige Großvisionäre, darunter die Lautsprecher des Vereins Aufbruch Stuttgart, die fehlende Nähe zur „Mitte“ beklagen. Inzwischen bin ich zwei Männern sehr dankbar, die aus ihrer etwas höher gelegenen Kulturetage die Sicht auf die Stadt geöffnet und damit einige Herrschaften auf ihre Scheuklappen hingewiesen haben. Stuttgarts designierter Ballettintendant Tamas Detrich, geboren in New York, sagt zu den Postgebäuden: „Dieser Ort befindet sich in unmittelbarer Nähe der Innenstadt und würde, wenn eine angemessene Infrastruktur vorhanden ist, sehr viel Potenzial bieten.“ Der designierte Opernintendant Viktor Schoner, nach Stationen wie Berlin und New York in München zu Hause, sagt, die Postidee könne zu „einer neuen, vergrößerten Vorstellung“ des Begriffs Innenstadt beitragen. Allein für diesen Satz hat er schon vor seiner ersten Vorstellung einen Preis verdient.

Vom Hauptbahnhof zur Haltestelle Mineralbäder fährt man ganze sechs Minuten – und erreicht dann per Fuß in fünf, sechs Minuten die Post. Die Gesamttour entspricht zeitlich etwa dem Weg vom Bahnhof zum Theaterhaus – das ich aus Pietätsgründen nicht mit der „Marke“ Staatsoper vergleichen will. Hier geht es um Geografie.

Der Architekt und Aufbruch-Wortführer Arno Lederer hatte für die Ersatzoper einen Ort „in der Stadt“ gefordert. Er wollte dafür den Eckensee überbauen und das denkmalgeschützte Katharinenstift aus dem Weg räumen. Wer, mitten in der Wohnungsnot, widersprach, geriet in den Verdacht, dem berühmten Ausruf eines schwäbischen Politikers mit dem schönen Namen Damian Mosthaf von 1827 zu folgen: „Mr braucha koine Kunscht, Grombiara braucha mr.“

Heute brauchen wir die Kunst so dringend wie eh und je, schon um uns aufzuklären, warum bei uns eine Minderheit so viele und die große Mehrheit so wenige oder überhaupt keine Kartoffeln hat.

Zur Vorbereitung auf die Reise zum Postamt empfehle ich, möglichst bald die Wahnsinnsstrecke zu prüfen, um später nicht aus Angst vor dem Unbekannten eine Verzweiflungsarie anzustimmen. Die Bahn fährt auf mehreren Linien zur Haltestelle Mineralbäder, an der man die Monsterbaustelle Bad Berg sehen kann. Zuvor passieren wir die bewusstseinserhellenden Stationen Staatsgalerie (Kunst), Neckartor (vergiftete Luft), Stöckach (Burger-Imbiss), Metzstraße (SWR-Gebäude, früher Stadthalle).

Die Fahrt durch die Neckarstraße führt durch aufregende Kapitel der Stadtgeschichte. Die Straße erzählt vom Widerstand gegen Hitler über die Operetten der Nachkriegsunterhaltung bis zu den bahnbrechenden Fernsehfilmen des Literaturnobelpreisträgers Samuel Beckett. Wer diese Sechs-Minuten-Tour überlebt, kann sich nach dem Ausstieg an der Gaststätte Flora & Fauna für den Aufstieg zum Postpaketamt stärken. Dann taucht der Reisende ein in eine Parklandschaft mit See und erkennt mithilfe seines Opernglases womöglich sogar den Nesenbach, das Wahrzeichen für den charakterlosen Umgang der Stadt mit ihrem Wasser. Zurzeit protestieren Bürger übrigens nicht weit davon gegen die Müllplatz- und Recyclingpläne im Mineralwasserschutzgebiet des bizarren Cannstatter Travertingeländes.

Aufschlussreich wäre nach der Ankunft an der Haltestelle auch die Erkundung des Stadtteils Berg mit seiner Industrievergangenheit und der vorsätzlich verschandelten Villa Berg. Bei Bedarf findet man gute Gasthäuser wie Traube und Buschpilot.

Unsereins peilte an diesem Sonntag die alte Post an, um das legendäre Bahnbetriebswerk Stuttgart-Rosenstein aufzusuchen - bekanntlich muss es Stuttgart 21 weichen. Zum Umfeld der Post gehört eine riesige Halle mit abgewrackten und intakten Oldtimern der Eisenbahn. Das Unternehmen Schienenverkehrsgesellschaft (SVG) und Hobby-Schrauber aus Vereinen kümmern sich um die historischen Relikte. Eisenbahnfreunde restaurieren ausrangierte Waggons und Loks und machen sie wieder schienentauglich. SVG und Vereine bieten Sonderzugfahrten für Fußballfans, Partyfreunde und Romantiker an. Dem Besucher öffnet sich ein Abenteuerparadies: Kopfkino mit realen Kulissen und Requisiten. Man stößt auf 90 Jahre alte, fürstlich gepolsterte Salonwagen mit Toiletten, von denen der ICE-Passagier nur träumen kann.

Als ich zwischen den Zügen herumstiefle, begegne ich Christoph Wastian (36) aus Cannstatt. Er ist Anwalt für Arbeits- und Zivilrecht. Schon in jungen Jahren Modelleisenbahn-Liebhaber, arbeitet er heute aus Leidenschaft in seiner Freizeit für die SVG. Als ich ankomme, erneuert er gerade die Bremsklötze eines „Silberlings“ – so nennt man wegen ihrer glitzernden Verkleidung die Regionalzüge aus den sechziger Jahren, die inzwischen ausgemustert wurden. Werkeln an Waggons, sagt Christoph, mache den Kopf frei.

Das Postgelände im Park bietet uns heute schon große Oper. Aber woher soll man das wissen in Weltstadt-City, zehn Minuten vom wahren Leben entfernt.

 

 

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