Bauers Depeschen


Samstag, 17. Juni 2017, 1804. Depesche

 

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Die aktuelle StN-Kolumne: Auf den Spuren von Wilhelm Raabe

ZUR NOTWEHR BERECHTIGT

Als ich nach vier Stunden Eisenbahnfahrt meinen Koffer durch die Stadt schleppte, wurde mir schwindlig. Das lag nicht an meinem verhassten Rollkoffer, der die Menschheit mit Lärm terrorisiert, sobald ich ihn wie ein Esel hinter mir herziehe. Vielmehr vermutete ich in der Fremde eine finale Halluzination: Vor mir wiesen zwei Schilder auf die Leonhardstraße und den Leonhardplatz hin, was nur heißen konnte: Ich war die ganze Zeit im Kreis herumgefahren, dazu verdammt, in einem unheiligen Kessel namens Stuttgart vor die Hunde zu gehen. Erst als ich das fehlende „s“ auf einem der Straßenschilder entdeckte, schöpfte ich Hoffnung: Zu Hause gibt es nur einen „Leonhardsplatz“, keinen „Leonhardplatz“.

Auf dem Weg zum Hotel kam ich am Wilhelm-Raabe-Haus vorbei. Kaum den Rollkoffer für eine Verschnaufpause abgestellt, hatte mich die Heimat endgültig am Kragen: Der Dichter Wilhelm Raabe wohnte und arbeitete von 1862 bis 1870 in Stuttgart, in der „Schriftsteller- und Verlegermetropole“, wie es auf der Tafel an der Fassade heißt. In Braunschweig, wo der Autor vier Jahrzehnte verbrachte, lebte er von 1901 bis zu seinem Tod 1910 in der Leonhardstraße; heute steht dort das Literaturzentrum der niedersächsischen Stadt, in der ich aus schicksalhaften Gründen gelandet war, die für diese Zeilen keine Rolle spielen.

Bis dahin hatte ich die Braunschweiger Existenz des Dichters Raabe nicht in meinem Speicher, zumal man mir vor allem den Besuch von Lessings Grab ans Herz gelegt hatte. Als ich später die ausgerissenen, mit Steinen beschwerten Reclam-Seiten von „Emilia Galotti“ auf Lessings Ruhestätte sah, war ich doch erstaunt: Fanrituale auf Friedhöfen sind also keineswegs Superstars wie Oscar Wilde oder Jim Morrison vorbehalten.

Nach meiner Rückkehr suchte ich in der Nähe des Feuersees die Hermannstraße auf: In den dritten Stock des Hauses Nummer 11 war Wilhelm Raabe mit seiner Frau Bertha 1864 von der Gymnasiumstraße umgezogen; eine Tafel am Haus erinnert daran. Gleich nach der Hochzeit hatte sich das Paar in Stuttgart niedergelassen; hier wurden zwei ihrer vier Töchter geboren.

Wilhelm Raabe, aufgewachsen in Wolfenbüttel (wo Lessing in der berühmten Herzog-August-Bibliothek gearbeitet hat), wurde nach abgebrochener Schule und ebenfalls vorzeitig beendeter Buchhändlerlehre freier Schriftsteller. Um sich sein Auskommen zu sichern, arbeitete er unermüdlich, veröffentlichte fast 70 Romane, Novellen, Erzählungen und auch etliche Gedichte. Er war ein gesellschaftskritischer Autor, Schöpfer realistischer Romane und spannender Unterhaltungsliteratur. Sein 1884 veröffentlichtes Werk „Pfisters Mühle“ gilt heute als einer der ersten großen Umweltromane und verarbeitet auch – wie einige andere Werke – Raabes Stuttgarter Erfahrungen. In dem Buch verschmutzt eine Zuckerfabrik einen Bach und zerstört damit die Existenz des Gastwirts Pfister. Der Blick des Dichters auf die Industrialisierung. Armin Petras hat den Ökostoff 2014 für das Stuttgarter Staatsschauspiel inszeniert.

Bei Wittwer fand ich auf Anhieb Raabes „Meistererzählungen“ – und in einem „FAZ“-Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Moritz Baßler diese schönen Sätze: „Mit Raabes Texten ist es wie mit römischen Kirchen oder Countrysongs: Eine(r) allein packt einen vielleicht noch nicht, aber spätestens wenn man in Serie geht, wird es spannend. Hat man die Problemkonstellationen einmal erfasst, werden die einzelnen Lösungen höchst aufregend . . .“

In Horst Brandstätters und Jürgen Holweins unerreichtem Stuttgarter Standardwerk „Dichter sehen eine Stadt“ sind einige Briefe Raabes abgedruckt. Als Verfechter eines vereinten Deutschland ist er nicht gut zu sprechen auf die politische Stimmung „in diesem jämmerlichen Württemberg“: „Dieses ‚Schwaben‘ (der Name ist mir schon widerlich, weil er nichts bedeutet und nichts bedeuten soll) zehrt von seinem Ruf und Ruhm, auf den es durchaus keinen Anspruch hat“, schreibt er 1866 an seinen Schwager und erwähnt, etwas differenzierend, auch die „anständigen wohlmeinenden Leute“ seiner Umgebung.

Seit 1909 gibt es im Stuttgarter Stadtteil Südheim in Heslach, in der Nähe des Schoettleplatzes, die Wilhelm-Raabe-Straße, womit ich zu einem anderen Kapitel Stadt­geschichte komme, dem ich unterwegs begegnet bin. 2012 hat Braunschweig den Platz vor seiner Generalstaatsanwaltschaft im Stadtzentrum dem großen, am 16. Juli 1903 in Stuttgart geborenen Juristen Fritz Bauer gewidmet. Zum Vergleich: Im selben Jahr gab man in seiner Geburtsstadt lediglich einem Versammlungssaal des Amtsgerichts seinen Namen.

Fritz Bauer hatte 1951 als Generalstaatsanwalt Niedersachsens den rechtsextremen Politiker Remer angeklagt, nachdem dieser die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 als „Hoch- und Landesverräter“ bezeichnet hatte. Erst mit Remers Verurteilung wurde der Widerstand gegen die Nazis bei uns rechtsmäßig anerkannt. Fritz Bauer sagte im Prozess: „Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr.“

Geschichte schrieb der Sohn jüdischer Eltern später vor allem durch seinen mutigen, aufreibenden Einsatz für den Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Am 1. Juli 1968 wurde er tot in der Badewanne seiner Frankfurter Wohnung aufgefunden; die Todesumstände wurden nie geklärt. 2014 erinnerte Lars Kraumers sehenswerter Kinofilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ an das Leben des unbeugsamen Juristen.

Erst 2003, zu seinem 100. Geburtstag, hat ihm seine Heimatstadt auf Anregung des Grünen-Stadtrats Michael Kienzle einen Fußpfad am Bopser gewidmet. 2010 wurde dieser versteckte Weg am Hang nach der jüdischen Philosophin und Frauenrechtlerin Carola Blume umbenannt – und die Treitschkestraße im abgelegenen Sillenbuch auf den Namen Fritz Bauers umgetauft; mit dieser Straße hatten die Nazis 1937 den antisemitischen Historiker und Politiker Heinrich von Treitschke geehrt.

Seltsam, dass ich auch außerhalb dauernd an Stuttgarter Geschichten erinnert werde. Womöglich liegt ein Fluch auf meinem Rollkoffer. In Braunschweig war es übrigens ganz schön: Auf der Oker fuhr ich für einen Zehner im Mietkanu durchs Grüne. Würde ich auch gern mal auf dem Stuttgarter Neckar machen.

 

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