Bauers Depeschen


Samstag, 27. Mai 2017, 1796. Depesche



 



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Die aktuelle StN-Kolumne:



THERAPIE

Was könnte ein Spaziergänger anderes tun als ein x-beliebiger Tag: Er kommt und geht. Wenn der Tag geht, wird es dunkel. Wenn der Spaziergänger geht, geht er halt herum. Manchmal auch im Dunkel.

Nachdem ich neulich im Süden der Stadt die Waldau verlassen hatte, notierte ich in meinem elektronischen Tagebuch etwas für die Ewigkeit, die für mein Gefühl auch nicht mehr so lange dauert wie früher:

„Es war am Himmelfahrtstag 2017, als wir auf Degerlochs Höhen zur Hölle fuhren. Wir blickten in den tiefsten Abgrund der Erbärmlichkeit, den ich in 40 Jahren gesehen hatte. Um der Welt die Wahrheit zu verkünden: 1:3 im WFV-Pokalfinale gegen Dorfmerkingen. Ich kann sagen: Ich war dabei.“

Bei solchen Sätzen geht es um Fußball auf der unteren Ebene. Die Folgen des seelischen und körperlichen Leidens auf dem Fußballplatz für das wirkliche Leben im Himmel oder in der Hölle sind individuell unterschiedlich. Alles eine Frage der Fähigkeit zur Stress- und Krisenbewältigung – heute unter dem Fachbegriff „Resilienz“ populär. Entscheidend für die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress und Ängsten, habe ich in einem Buch des Schweizer Stress- und Resilienzforschers Georg Hasler gelesen, ist der „Wir-Faktor“ – das Gemeinschaftserlebnis, der Zusammenhalt (gelegentlich auch Solidarität genannt). Bekanntlich treffen sich viele von uns vorwiegend im Internet, sofern sich die Begegnungen nicht endgültig auf „Menschen und Marken“ beschränken, wie es die Breuninger-Reklame für einen neuen Konsumkomplex streut.

Die Schweizer nennen Christi Himmelfahrt offiziell „Auffahrt“. So bekommen die vielen Hinweisschilder in unserer Auto- und Hausbesitzerszene eine neue Dimension: „Auffahrt freihalten!“ Bei Zuwiderhandlung lässt der Herr der Herrlichkeit kostenpflichtig abschleppen.

Zufällig stiefle ich an Himmelfahrt am Leipziger Platz vorbei. Auf dieser kleinen grünen Oase am Ende der Bismarckstraße im westlichen Stadtteil Vogelsang feiern an diesem Tag Mitglieder der benachbarten Griechisch-orthodoxen Kirche ein fröhliches Fest. Man darf in diesem Fall von einem echten Gemeinschaftserlebnis sprechen – ein Pausenhof für den naturgemäß eher einsamen Spaziergänger. Musiker spielen und singen, die Menschen halten sich an den Händen und tanzen in Ringelreihenformation. Die Kirchengemeinde am Leipziger Platz hat 15 000 Mitglieder, wurde 1972 gegründet und heißt Himmelfahrt Christi. Die Evangelische Kirche überließ den Griechen einst ihre sogenannte Notkirche, die man 1947 aus den Trümmern der im Krieg zerbombten Pauluskirche errichtet hatte.

Weil ich eine schwer zu bekämpfende Souvenir-Macke habe und kaum an einem Krimskrams-Stand vorbeikomme, kaufe ich mir auf dem Fest ein T-Shirt mit der in Englisch aufgedruckten Botschaft: „Ich bin Grieche“. Ein Dokument, das beim Blick auf Europa und Schäubles inhumane Sparpolitik gegenüber Athen in meinem Fall keineswegs den Tatbestand der Urkundenfälschung erfüllt. Neben der Zeile „I‘m Greek“ steht auf meinem neuen Hemd auch das häufig gebrauchte griechische Wort „Malaka“: Inhaltlich entspricht es ungefähr dem italienischen „Stronzo“ oder dem englischen „Wanker“ – ist aber bei richtiger Anwendung liebevoll gemeint; diese kleine Nachhilfe für den Beleidiungsfall erteilt mir am Himmelfahrtsabend der griechische Kellner im türkischen Restaurant Yol, einer geschmackvollen, sehr geräumigen Taverna an der Spittastraße.

Das Lokal gibt es seit gut 25 Jahren, und jedes Mal, wenn ich hier einkehre, erinnert es mich an einen großen türkischen Spielfilm, der vor 35 Jahren auch bei uns starke Beachtung fand: „Yol – Der Weg“. Weil sein Drehbuchautor, der Regisseur und Schauspieler Yilmaz Güney, im Gefängnis saß, übernahm nach seinen Ideen Serif Gören die Regie. Der Film schildert in bedrückenden Bildern menschliche Schicksale nach dem türkischen Militärputsch von 1980. Güney starb 1984 in seinem Pariser Exil und wurde auf dem Pére Lachaise beerdigt.

Diese Geschichte passt so gar nicht zur Stimmung in der Taverna Yol: An diesem Ort herrschen außergewöhnliche Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit. Aber das menschliche Hirn setzt ja nicht grundlos Erinnerungen frei: Die heute in der Türkei eingekerkerten Autoren werden nicht weniger, nur weil zurzeit weniger darüber berichtet wird.

Ich erzähle von diesen Beobachtungen und Gedanken, weil es mir generell empfehlenswert erscheint, an einem freien Tag ziellos in der Stadt herumzugehen. Nur so lernt man sie wirklich kennen. Irgendwo gibt es immer was zu sehen und zu lernen, selbst wenn einige Stationen erst zu Hause bei der Nachbearbeitung richtig interessant werden. Dies gilt natürlich nicht für mein bleibendes Gemeinschaftserlebnis bei den Kickers: Ein solcher Schock wirkt unmittelbar wie eine hoch dosierte Injektion und bedarf statt einer historischen Betrachtung einer gründlichen Therapie: Die beste Erste Hilfe heißt in diesem Fall Spazierengehen, am besten im schwärzesten Schatten.

Nur auf den ersten Blick hat mein Waldau-Drama inhaltlich nichts mit einem Ort zu tun, den ich am Feiertag nach dem Besuch des Leipziger Platzes ansteuerte, diesmal auf dem Weg durch die Seyfferstraße, die mal Gelbe Straße hieß, ehe man sie 1890 Otto Seyffer widmete, einem Sammler antiker Kunstgegenstände, der vor seiner Himmelfahrt seine Schätze der Stadt vermacht hatte.

In der Seyfferstraße findet man den Eingang zum Rossbollengässle. Rossbollen - so heißen bei uns Pferdeäpfel, im Englischen weit präziser „horseshit“ genannt und deshalb auch zur Charakterisierung gewisser Fußballvereine bestens geeignet. Keine Frage, den schönen, erst vor wenigen Jahren angelegten Hinterhof mit seinen Backsteinhäusern und einem Kinderspielplatz samt Pferdeskulptur ohne Bollen sollte man sich mal anschauen: ein kleiner Ort als Bürgertreff zur Wiederbelebung vernachlässigter Gemeinschaftserlebnisse. Stärkt bekanntlich die Resilienz. Damit komme ich zum Ende und gehe weiter.



 

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