Bauers DepeschenDonnerstag, 27. April 2017, 1783. DepescheNOTIZEN Am 15. Mai sage ich mal wieder was auf der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 auf dem Schlossplatz. 18 Uhr. Wie immer ist mein Thema NICHT der "Bahnhof", dieses Propagandavehikel. - Der Flaneursalon macht Pause bis zum 17. Oktober. Im kommenden Jahr feiern wir das 20-jährige Bestehen meiner Lieder- und Geschichtenshow, unter anderem mit einer Sommerveranstaltung am Neckarufer im Stuttgarter Hafen und einem Oktober-Abend im Gustav-Siegle-Haus (u. a. mit Christine Prayon). Dazu gibt es auch eine neue Kolumnensammlung als Buch. Beiträge schreiben im LESERSALON Hört die Signale! MUSIK ZUM TAG Die aktuelle StN-Kolumne: POESIE IST WIDERSTAND Er sitzt im „Globalen Klassenzimmer“ des Weltcafés im Alten Waisenhaus an der Planie. Hinter ihm, eher zufällig, ein Transparent mit Picassos Friedenstaube. Ein halbes Dutzend Medienleute gruppiert sich um den Mann. Nach Unterricht aber riecht es nicht in diesem Schulungsraum. Der Referent strahlt etwas Unautoritäres, gar Freundschaftliches aus. Er ist eine Berühmtheit, die man seit Ewigkeiten zu kennen glaubt und womöglich auch schon beklatscht hat – ohne zu wissen, was diesen Unermüdlichen wirklich umtreibt. Eigentlich bin ich gerade auf dem Weg zum Stuttgarter Neckarhafen, bisschen Schreibstoff suchen, als ich am Vormittag einen Abstecher ins Weltcafé mache. Die Tübinger Gesellschaft Kultur des Friedens, mit Konstantin Wecker seit langem verbunden, hat eine kleine Presserunde organisiert. Der Münchner Komponist und Musiker, der Dichter und Sänger, Schauspieler und Aktivist hat rechtzeitig vor seinem 70. Geburtstag am 1. Juni eine neue Biografie vorgelegt: „Das ganze schrecklich schöne Leben“ (Gütersloher Verlagshaus, 24,99 Euro). Jetzt sitzen wir im ehemaligen Waisenhaus, um uns kurz mal über einen zwischen zwei Deckeln gepressten Menschen zu unterhalten. Diese Nummer hat etwas durchaus Komisches: Dieser Mensch hat so ungewöhnlich viel zustande gebracht, mitgemacht und angezettelt, dass sein schrecklich schönes Leben unmöglich auf 480 Buchseiten passen kann. Und es scheint, als finde er es selber höchst amüsant, seine Vergangenheit im Zeitformat einer Schallplatte abzuspielen – mithilfe seiner vor Energie strotzenden Gegenwärtigkeit. Wie gesagt, eigentlich war ich schon auf dem Weg zum Neckar, und als sich die Weltcafé-Runde aufgelöst hat, frage ich den Sänger, ob ihm ein Lied über einen Fluss einfalle. Über dieses bescheuerte Ansinnen nicht die Bohne verwundert, singt er mir aus seinem „Liebeslied im alten Stil“ vor: „Komm, mein Lieb, wir lassen uns den Fluss hinuntertreiben, / keiner weiß, wohin das Ganze führt. / Ganz egal, wie wir hernach zusammen bleiben, / Hauptsache, wir haben uns gespürt ...“ Damit, denke ich, kann ich in den Tag gehen. Noch Stunden später, längst im Hafen, geht mir dieser Wecker nicht aus dem Kopf. Ich war nicht immer ein besonders großer Fan seiner Songs – mit zunehmendem Alter allerdings vermeide ich es, Qualität nach meinem fragwürdigen Privatgeschmack zu beurteilen. Zurück in der Stadt, die Zeile von der Liebe am Fluss noch immer im Ohr, besorge ich mir auf meiner Hausstrecke bei Second Hand Records gegenüber der Liederhalle Weckers jüngstes Doppelalbum „Ohne Warum“ und in der Buchhandlung Brucker in der Schwabstraße seine neue Biografie. Solche Kopfkombinationen gefallen mir: Blättern und lesen und zwischendurch einen Song vom Autor selbst anhören. Das habe ich oft gemacht, mit Patti Smith, Bob Dylan oder Richard Hell. Mit dieser doppelten Dosis erscheint mir die Infusion am wirksamsten. Konstantin Wecker hat zuvor präzise über sich selbst und seine Zerbrechlichkeit, über sein Denken und seine Ab- und Ausschweifungen geredet. So souverän und glaubwürdig kann das nur einer, der seine Abstürze sehr bewusst verarbeitet hat. Seine eher komödienhafte Phase als heimlich trainierter, muskelbepackter Softporno-Darsteller in der Studentenzeit und seine weniger witzige Kokainsucht in den neunziger Jahren sind im Grunde nichts anderes als Lektionen zur Sensibilisierung seiner poetischen Weltwahrnehmung. Deshalb ist es lächerlich, Wecker ständig vorzuwerfen, er sei weltfremd, wenn er verträumt oder zornig die Welt auseinandernimmt. Selten wird dabei unterschieden, ob er als Dichter und Sänger oder als linker Aktivist und couragierter Demonstrant auftritt. Selbst wenn er alles gleichzeitig macht, sind seine Lieder doch etwas völlig anderes als die politischen Statements. Und die Haltung eines Anarchisten hat ja zunächst nichts, wie klischeehaft behauptet, mit dem Verhalten von Chaoten zu tun hat – ursprüngliches linkes, radikales Denken zielt auf Veränderungen an den Wurzeln. „Poesie ist Widerstand“, sagt der Antifaschist Wecker – und erzählt, wie ihn am Maulbeerbaum vor seinem Haus in Italien die Wörter für seine Gedichte „überfallen“. Wecker vereint für sich Politik und Spiritualität. Er sieht sich als religiösen Menschen, der ein Verhältnis zu universeller Liebe und Gott aufbauen konnte – nachdem er aus der Kirche ausgetreten und „in Freiheit“ gelandet war. Er erzählt von den vielen kleinen Leuten in Bayern, die CSU wählen, „aber auf Seehofer scheißen“, wenn sie Flüchtlingen aus Barmherzigkeit helfen. Von ihnen, sagt Wecker, spreche man viel zu wenig. Gegen das Vergessen und Vertuschen hat er vor zehn Jahren seinen Blog „Hinter den Schlagzeilen“ gegründet, ein Internetmagazin „für Kultur und Rebellion“. Mit dessen Chefredakteur Roland Rottenfußer und seinem Schulfreund Günter Bauch – beide Germanisten – hat er die Biografie verfasst. Die Wegbegleiter sollen ein Bild des Künstlers und Humanisten von außen zeichnen; alle Beiträge im Buch sind mit den Namen der Autoren gekennzeichnet. Sämtliche 480 Seiten konnte ich noch nicht lesen – nur Witterung aufnehmen und die richtige Stelle für meinen Hafentag suchen: „Die Isar hat mich geprägt wie der Lech den Brecht“, schreibt Wecker über seine Wurzeln. „Ich denke, ich und die anderen Kinder waren ‚Flussmenschen‘ (…). Ich habe auch immer betont, dass nicht stehendes Wasser, sondern der Fluss mein Leben geprägt hat.“ Das leuchtet mir sofort ein. Dann lege ich – in meiner Wohnung neben der Novalisstaffel – Weckers Lied „Novalis“ auf: „ . . . wenn wir statt Geld zu transferieren / die ganze Welt poetisieren, / dann fliegt vor einem geheimen Wort / das ganze verkehrte Wesen fort . . .“ Am 8. Mai, dem Jahrestag der Befreiung von Krieg und Faschismus, tritt Konstantin Wecker zusammen mit anderen Musikern und Rednern in der Stuttgarter Friedenskirche auf. Beginn ist um 20 Uhr. |
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