Bauers Depeschen


Dienstag, 19. Juli 2016, 1657. Depesche

 

ZUM VORMERKEN

3. Schmuddel-Bankett am Samstag, 20. August, in der Leonhardstraße, Stuttgarter Altstadt. Essen,Trinken, Denkanstöße. Es spielen Steve Bimamisa & Freunde, Jens-Peter Abele & Marcus Engler u. a. Außerdem: Spaziergang durchs Viertel und meine Rede zur Lage ... Beginn: 14 Uhr.



Der Klick zum

LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



MIETFREI IM PARK

Für die oft tumultartigen Wochenenden in der Stadt habe ich im Lauf des Lebens eine Überlebensmethode entwickelt, die viel mit Einbildung und wenig mit Realität zu tun hat. Samstags gehe ich in die Sauna im Bad Berg, und nach jeder Runde steige ich ins Schwimmbecken im Glauben, mit dem Schweiß sei auch der Ärger der zurückliegenden Tage aus mir herausgeflossen. Das kalte Mineralwasser wiederum würde die verbliebenen dunklen Gedanken löschen. Sonntags dann laufe ich eine Stunde durch die Landschaft mit dem läppischen Ehrgeiz, Kondition für die bevorstehenden Tage zu tanken – nur um eine Woche später das blödsinnige Spiel zu wiederholen.

Damit wäre der größte Teil meines auf­regenden Lebens abgehandelt, hätte ich am vergangenen Sonntag zum Laufen nicht auch die Hofener Straße entlang des Neckars unter den Weinbergen gewählt. Diese wunderschöne Strecke ist sonntags für Autos und Motorräder gesperrt – und befeuert deshalb jene Spezies von Rad­fahrern, die das Hirn in den Waden haben, den armen Fußgängern zu zeigen, wem auf Gottes Erdboden auch der Gehweg gehört. Diese Attacken, vermutlich hormonell gesteuert, betrachte ich insofern noch nicht als staatsgefährdend, als mein Zorn darüber – in Fachkreisen mit dem Dummwort „aggro“ umschrieben – spätestens bei der nächsten Sauna verdampft. Tatsächlich bietet selbst die enge Kessellandschaft bis heute luftige Zonen für die Pausen zwischen den internationalen Terrornachrichten und dem Hamburger Fischmarkt in der Stadt.

In Hanno Rauterbergs Buch „Wir sind die Stadt!“, einer Betrachtung des urbanen Lebens „in der Digitalmoderne“, steht der schöne Satz: „Viele Menschen der Gegenwart treibt es aus ihren Wohnungen, um sich in den Parks, auf Plätzen und Straßen körperlich zu spüren, schwitzend und keuchend, mal vergnügt, mal verbissen.“ An einem schönen Sonntag kann man alles zusammen haben: Gleichzeitig vergnügt und verbissen schwitzen und keuchen – ohne Kampfradfahrer-Hormone.

In gemäßigtem Joggertempo laufe ich durch das riesige, von Familien und Ausflugsgruppen gestaltete Grill- und Spielfest auf den Wiesen am Max-Eyth-See. Zwischen fliegenden Bällen steigen die Rauchzeichen des internationalen Stadtlebens auf. Es riecht nach Waldbrand und Imbissbude, und es ist friedlich hier draußen, wo sich die Menschen unter freiem Himmel mietfrei ein Stück Stadtraum auf Zeit nehmen. Leider gibt es in der Digitalmoderne keine Abgeschiedenheit, wenn man wie ich der Taschentelefonsucht verfallen ist; man bekommt mit, wie die Landsleute vieler Grill-Ausflügler mit der türkischen Fahne am Auto auf den merkwürdigen Putschversuch gegen ihren noch merkwürdigeren Präsidenten reagieren.

Ich denke, die Bedeutung des Parks als urbaner Pausenhof zwischen nervtötendem Shopping-, Event- und Baulärm wird bei uns nicht gebührend respektiert. Wie sonst würde man so viele lebenswichtige Grünflächen in der feinstaubvergifteten Stadt für Immobiliengeschäfte zerstören.

Nach einer Dusche suche ich einen Cannstatter Erholungsort auf, den stattlichen Kurpark mit seinen kleinen Mineralwasserbrunnen. Menschen auf grünen Wiesen erinnern an Popsongs und die Liebe in der Natur. An „Brown Eyed Girl“ von Van Morrison, der gerade beim Festival Jazz-Open aufgetreten ist, an „Another Park, Another Sunday“ von den Doobie Brothers, einen Klassiker aus den siebziger Jahren.

Im gut gefüllten Biergarten des Kurparks präsentiert am Nachmittag der Musikverein Bad Cannstatt eine Mischung aus Pop und Marsch, dirigiert von einer jungen Frau. Als die Blaskapelle Pause macht, treibt mich die Neugier an die Bühne des Biergarten-Pavillons, dieses architektonische Unikum zwischen Zirkusbau und halbierter Moschee. Die Dirigentin ist gut aufgelegt. Als sie mir ihren Namen sagt und ihn englisch ausspricht, schaue ich so dumm aus der Wäsche, dass sie lachen muss. Sophie Pope ist Engländerin, 28 Jahre jung, seit acht Jahren in Deutschland, seit anderthalb Jahren Dirigentin beim Musikverein Cannstatt. Ihr Deutsch ist fast akzentfrei.

Sie kommt aus der lebendigen Industriestadt Sheffield, hat in Manchester Komposition und Posaune studiert und ihre Ausbildung an der Stuttgarter Hochschule abgeschlossen. Wenn Sie in Sheffield und Manchester gelebt haben, sage ich, dann sind Sie doch sicher mit Brass-Bands auf­gewachsen. Ja, sagt sie, aber erst seit fünf Jahren dürfen in England Frauen in Brass-Bands spielen, in den 25-köpfigen Blas­kapellen, die aus der Kultur der Arbeiterklasse kommen. Sie erklärt mir, dass die Brass-Musiker ihre Instrumente anders spielen als deutsche Musikanten: mit viel Vibrato, um die Wehmut und das Leiden in den Kohlebergwerken besser auszudrücken.

Als ich jung war, sage ich, wären die Männer einer Blaskapelle sofort aufgestanden und nach Hause gegangen, hätte eine junge Dirigentin das Pult übernommen. Ja, sagt sie, früher war das so, aber die Dinge haben sich geändert.

Sophie Pope lebt in Cannstatt, leitet in Stuttgart professionell mehrere Ensembles, darunter Posaunenchöre und Kirchenmusik-Orchester. O verdammt, der Brexit, sage ich, kann Ihnen der Probleme machen wegen der Arbeitserlaubnis? Das ist denkbar, sagt sie, diese Sache sei schrecklich, aber sie hoffe, bald schon die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten.

Noch ein kurzer Gang durch den Kurpark auf der anderen Seite der Straße. Einige Männer haben kleine Hölzer aufgestellt, spielen etwas, das ich noch nie gesehen habe. Mölkky, es komme aus Schweden, sagen sie mir. Vorsichtshalber schaue ich im Taschentelefon nach: Mölkky ist ein finnisches Geschicklichkeitsspiel; seit 2008 werden auch deutsche Mölkky-Meisterschaften ausgetragen.

Alter Schwede, es gibt eine Menge Dinge in der Stadt, von denen ich keine Ahnung habe. Aber ich bin zuversichtlich, die Welt auch in Zukunft so wenig zu verstehen wie heute, solange mich Sauna und Mineralwasser davor schützen, dass das Hirn in die Wade rutscht.





 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·