Bauers Depeschen


Samstag, 17. Januar 2015, 1409. Depesche





LIEBE GÄSTE,

bin noch kurz in Ferien, das folgende Interview mit Heinrich Steinfest habe ich vor meinem Ausflug für die aktuelle Wochenend-Beilage "Solo" der StN hinterlassen:



Der Schriftsteller Heinrich Steinfest, 1961 in Australien geboren, in Wien aufgewachsen, lebt und arbeitet seit vielen Jahren im Stuttgarter Westen. Hier das Gespräch mit dem Autor ("Der Allesforscher") zum Thema Kriminalroman:



ICH JEDEM MENSCHEN STECKT

EIN GEWISSES GEWALTPOTENZIAL



Frage (F): Herr Steinfest, was fasziniert so viele Menschen an Kriminalromanen?

Heinrich Steinfest (HS): Die Möglichkeit, auf gefahrlose Weise zu erfahren, was in einem steckt oder stecken könnte. Der Kriminalroman stellt die Frage nach Gut und Böse, er erörtert damit ein uraltes Bedürfnis des Menschen. Nehmen wir das Symbol des Christentums, das Kreuz. Es symbolisiert die Qual, das Gequältwerden, das Sterben, bei dem der Mensch ganz bei sich ist. Wenn es für den Menschen einen Gottesbeweis gibt, dann ist es seine Freiheit, gut oder böse zu sein. Wäre der Mensch nur gut, wäre er eine Marionette Gottes. Aber er ist frei in seiner Entscheidung. Davon handelt ein Kriminalroman.



F: Der Mensch entwickelt bei der Lektüre eine Zuneigung zum Bösen, er sympathisiert mit Verbrechern, mit Mördern?

HS: Das kommt vor. Diese Zuneigung konterkariert das übliche Wertesystem, in dem wir leben. Der Täter, der Gangster ist ein Individualist, ein nicht konformer Charakter. Er tut oft Dinge, die uns sympathisch sind. Fast jeder hat heute, meist aus guten Gründen, eine Aversion gegen die Bank. Jetzt kommt es darauf an, wie intelligent ein Überfall auf eine Bank ausgeführt wird. Beraubt der Gangster die Bank mit einem originellen Plan, gräbt er virtuos einen  Tunnel, überlistet er weise das System, ist man auf seiner Seite. Nimmt er dagegen ein Kind als Geisel, verliert er die Zuneigung. Und auch die Figur des Ermittlers kreist geradezu obsessiv um das Thema des „Bösen“, nicht bloß im Sinn einer Pflichterfüllung. Ermittler wirken stets religiös.



F: Was sind die Motive für die Sehnsucht nach dem Spiel mit Gut und Böse?

HS: In jedem Menschen steckt ein gewisses Gewaltpotenzial. Natürlich haben wir einen Willen, aber wir sind auch Getriebene. Eigentlich wollen wir ja in den Himmel kommen, aber spannender finden wir es, in die Hölle hinabzusteigen (erst recht, wenn man sich die Hölle als ein überheiztes Wiener Kaffeehaus vorstellt). Das hat mit dem Eskapismus zu tun, dem Wunsch, in andere Welten, in Traumwelten vorzustoßen. Mithilfe des Kriminalromans lassen sich exotische Abenteuer erleben. Andererseits kommt das Gewaltpotenzial  im Alltag zum Vorschein, in der Familie, im Beruf, beim Umgang mit der Macht, meist geschieht dies auf subtile Weise. Mit dem Kriminalroman macht der Leser Erfahrungen, die er aus der Realität nicht kennt und womöglich auch gar nicht machen will. Der Kriminalschriftsteller hat die Aufgabe, vorhandene, real existierende Dinge für den Leser zu erhöhen, ihm das Dramatische, auch das Komische zu liefern. 



F: Das ist eine künstlerische Herausforderung, die die meisten Kriminalromane nicht erfüllen. 

HS: Klar, es gibt auch schlechte Kriminalromane. Aber das bedeutet nichts für das Genre. Es gibt auch sehr viele schlechte  Lyrik, sehr viele schlechte Prosa und elende Aquarelle. Grundsätzlich bedeutet das: Es gibt es nur gute und schlechte Bücher ...



F: ... und es gibt reichlich Krimi-Kategorien, um den Markt anzukurbeln. Sehr erfolgreich sind die sogenannten Regionalkrimis. Warum?

HS: Allein der Begriff des Regionalkrimis ist merkwürdig. Viele gute Krimis spielen ja seit jeher an einem speziellen Schauplatz, in einer speziellen Stadt. Raymond Chandlers Detektiv Philip Marlowe beispielsweise ermittelte in Los Angeles. Der Ort der Geschehens hat eine Psychologie, einen politische Atmosphäre, einen urbanen wie poetischen Charakter, der die Figuren der Geschichte prägt. Kein Mensch käme auf die Idee, von Krimis, die in New York, Los Angeles oder London spielen, von Regionalkrimis zu sprechen. Heute aber erfindet man quasi für jedes Nest einen Detektiv, gräbt ein wenig in der Heimatgeschichte herum, beschreibt ein paar Straßen und nennt das ganze einen Regionalkrimi. Manchen Leuten gefällt das, weil sie die Hoffnung hegen, sich darin wiederzufinden. Oder wenigstens eine Gasse, in der sie schon mal waren.    



F: Sie haben vor etwa zwanzig Jahren als Kriminalschriftsteller begonnen. Das Komische, das Skurrile dominierten von Anfang an in Ihren Büchern. Ihr Held, der Wiener Chinese Markus Cheng, hatte nur einen Arm und eine Abneigung gegen Asiaten.

HS: Cheng ist gewissermaßen ein von Gott Verfolgter, einer, der von einem Unglück ins nächste stolpert. Ohne seinen Makel, den fehlenden Arm,  wäre dieser Mensch nicht denkbar. Ohne seine Behinderung wäre diese Figur nicht komplett. Erst der Makel gibt dieser Figur seine ganz eigene Eleganz. Das hat nicht nur mit dem fehlenden Arm zu tun. Cheng sieht wie ein Chinese aus, ist aber durch und durch ein Wiener, der tatsächlich Aversionen gegen alles Asiatische hat. 



F: Er ist also eine hochaktuelle politische Figur: quasi der in Deutschland geborene Türke, der sich als Deutscher fühlt, aber als Türke gesehen wird.

HS: Das Politische war von mir nicht beabsichtigt, spielt aber zwangsläufig hinein, weil die Umgebung, die soziale Situation, einen Menschen prägt. Mir ging es zu allererst um das Dilemma dieser Figur. Da habe ich mich ein wenig vom Genre der Comics leiten lassen.



F: Damit sind wir bei der Komik an sich. Werden Schriftsteller, die mit dem Element Humor spielen, unter Umständen von der Kritik weniger ernst genommen?

HS: Das kann passieren bei Leuten, die Humor und Komik mit Witzemachen verwechseln. Manchmal herrscht auch heute noch die Meinung: Das Gute muss was Ernstes sein. Aber ich bin ja kein Kabarettist, kein Spaßmacher. Der Komiker an sich beobachtet und dosiert sehr scharf, er überhöht die Realität nur leicht, weil er weiß, dass die Komik immer ein Teil der Wirklichkeit ist.



F: Sie haben sich im Lauf der Jahre immer weiter vom gängigen Kriminalroman entfernt. Stand dahinter eine Entscheidung, oder war es  eine künstlerische Entwicklung? 

HS: Das war eine Entwicklung. Einerseits habe ich überhaupt kein Problem, mich auf  verschiedene Genres einzulassen, gleichzeitig einen Robert Musil und einen Dashiel Hammett mit demselben Respekt zu lesen. Ich habe mich als Person im Lauf der Zeit sehr verändert, und mein Bedürfnis wuchs, über Träume zu schreiben. Nicht in dem Sinn, dass ich Träume deuten will. Sagen wir es so: Heute bin ich ein Detektiv, der in andere Sphären vorstößt, in Parallelwelten. Das wird ganz deutlich in meinem nächsten, im März erscheinenden Roman „Das grüne Rollo“. Es geht um einen Jungen, der hinter einer Jalousie in eine Albtraumwelt gerät, und der vierzig Jahre später auf die gleiche Weise dorthin zurückkehrt. - Weiter schreibe ich gerade ein Buch über einen Spatzen, einen Sperling, der davon träumt, ein Kriminalkommissar zu sein. Auf der anderen Ebene dieser Geschichte gibt es einen Kriminalkommissar, der davon träumt, ein Spatz zu sein. 



F: Ist das der neue Spatzen-Krimi?

HS: Passieren könnte es mir schon, dass der eine oder andere denkt, es gäbe nach dem Katzen-Krimi jetzt den Spatzen-Krimi. Das ist natürlich Unsinn. Ich folge meiner Liebe, die Welt aus einem neuen Blickwinkel, einer neuen Position zu betrachten, durch ein „neues Paar Augen“. Und diesmal sind es die Augen einer sehr philosophischen Vogels. Er heißt Quimp, ist ein Bahnhofsspatz im Gare Montparnasse, der sich vom Übriggelassenen der Menschen ernährt und dessen Geschichte in dem Moment in Gang kommt, da er sich überlegt, ob er überhaupt noch in der Lage wäre, ein sogenanntes natürliches Leben zu führen, etwa Würmer zu essen. Ihm graust davor. Ihm graust vor der Natur. Vor dem Töten. Nicht aus moralischen Gründen, aus ästhetischen. Aus diesem Zweifel erwächst das Abenteuer seines Lebens.



F: Sie haben einen einen hohen künstlerischen Anspruch.

HS: Es ist mein schriftstellerischer Ehrgeiz, beispielsweise einen Tisch so zu beschreiben, wie ihn noch keiner beschrieben hat, um einen neuen Blick auf den Tisch zu erfahren. Ich denke dabei an die bildende Kunst. Die Expressionisten haben den Blick auf die Seele neu definiert, die Kubisten den Blick auf den Gegenstand. Und ich bin eben gerade dabei, den Blick auf Spatzen neu zu definieren.



F: Hat sie durch Ihre Entwicklung auch der Blick auf Sie selbst verändert?

HS: Ja, ich habe gemerkt, dass ich von einigen Kritikern anders wahrgenommen wurde, als sie mitbekommen hatten, dass ich kein Kriminalschriftsteller bin, wie man ihn klischeehaft vor Augen hat. 



F: Schauen Sie „Tatort“, das wichtigste TV-Gut der Deutschen?

HS: Sinn und Zweck des Tatort ist ein therapeutischer. Denn der Sonntag Abend ist die Stunde der Depression, weil in uns allen die Angst vor dem Beginn der Schulwoche steckt. Was der Fußball für den Samstag ist also der Tatort für den Sonntag. Da gibt es hin und wieder eine Überraschung - ganz großartig 2014 „Im Schmerz geboren“ mit Ulrich Tukur). Oft aber denk ich mir: Jetzt schau ich mir das an, damit ich weiß, was man alles vermeiden sollte. Zum Beispiel Orte zu zeigen, Lokales, ohne das Wesen dieser Orte auch nur anzukratzen. Oder so völlig aus Witzeleien zu bestehen - ich sage nur Alberich.  



F: Könnten Sie sich vorstellen, trotz aller Aversionen das Drehbuch für einen Krimi zu schreiben?

HS: Nein. Ich bin ein Schriftsteller, der nur in seinem Stil arbeiten kann, der diesen Stil entwickeln, ihn auf keinen Fall verlassen will. Ich habe das berufliche, das existenzielle Glück, dass ich schreiben kann, was ich wirklich will, das Glück, dass mir mein Verlag keinerlei Druck macht. Er veröffentlicht, was ich liefere - freilich nicht ohne die Interventionen einer klugen Lektorin. Für Drehbücher wäre ich vollkommen ungeeignet.Ich bin fürs Fernsehen einfach nicht geboren. Ich bin ganz Buch.

(Joe Bauer)      









 

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