Bauers Depeschen


Dienstag, 22. November 2011, 819. Depesche



ANJABELLES CD-PREMIERE

Anjabelle, die Band der aus dem Flaneursalon bestens bekannten Sängerin Anja Binder, präsentiert an diesem Donnerstag, 24. November, ihre neue CD "Who Else But You": Club Erdgeschoss, Theodor-Heuss-Straße 4, 21 Uhr.



VOLKSABSTIMMUNG

Wenn global gesteuerte Konzerne und Banken die Menschen mit dem Zocker-System der Profitmaximierung beherrschen, wenn in diesem Klima die Rechten auf dem Vormarsch sind und Nazis in Deutschland nicht verfolgt werden, dann wundert man sich nicht, wenn an der zerstörten Nordseite des Stuttgarter Hauptbahnhofs die Propaganda-Parole "GEGEN STILLSTAND" aufleuchtet.

"De-Regulierung, wenn es im Interesse der Konzerne ist, aber auch gelegentlich Hyper-Regulierung (natürlich immer nur des Menschen!), wenn das gerade im Interesse der Konzerne ist.“ (Naomi Klein)

JA zum Ausstieg.



SOUNDTRACK DES TAGES



OBEN IST DIE LIEBE

Ein Text aus der Beilage zum 65-jährigen Bestehen der Stuttgarter Nachrichten

Von Joe Bauer



Es war anno 2011, als zwei junge Herren auf mich zukamen mit der sonderbaren Bitte, ich möchte doch in die Zukunft und von dort in die Gegenwart schauen. Seinerzeit war ich seit fast 40 Jahren als Zeitungsmensch tätig, und seltsamerweise hatten die beiden jungen Herren ebenfalls vor, sich in diesem Gewerbe durchzuschlagen.

Ich wies sie damals darauf hin, dass Zeitungsschreiber kaum mehr Überlebenschancen hätten als Pferdekutscher, Elefantenjäger oder FDP-Politiker. Diese Einschätzung gelte für Zeitungsschreiber selbst dann, wenn sie wie andere Dynamiker glaubten, der Plan, sich die Zukunft zu unterwerfen, habe etwas mit Fortschrittlichkeit zu tun. Diesem Irrtum seien schon viele Menschen aufgesessen, vorzugsweise in Stuttgart, wo es bekanntlich nicht einfach sei, in die Ferne zu schauen, da die meisten gar nicht merkten, dass sie unter vielen Zwergen hinter vielen Hügeln lebten.

Nicht umsonst hat man in der Stuttgarter Altstadt, wo früher die guten Jungs und die bösen Mädels ihr Unwesen trieben, nicht nur einen Bierbauch als "Kessel" bezeichnet, sondern auch das Gefängnis. In Stuttgart scheint dieses Wort negativ besetzt zu sein, ausgerechnet in einer Stadt, die nichts Besseres zu bieten hat als ihre famose Kessellage. Jeder Zeitungsschreiber, sagte ich den jungen Herren, müsse zuerst die Ränder des Kessels riechen, bevor er das Wort Stuttgart in seinen Computer tippe.

Die jungen Herren, die sich im Glauben an mich wandten, jeder dahergelaufene Lokalredakteur könne sich als Science-Fiction-Schreiber erweisen, sofern man es ihm nur befehle, hatten die Idee, ich solle mich im Jahr 2046, also einhundert Jahre nach der Gründung der Stuttgarter Nachrichten, auf einen Hügel über der Stadt setzen und in die Vergangenheit blicken.

Mein bescheidener Hinweis, 2046 würde ich in der Hölle schmoren, weil Gott weiß, dass ich die Sauna im Bad Berg liebe, oder auf dem Degerlocher Waldfriedhof die Grashalme von unten zähle, weil ich zu oft neben dem Rasen der Stuttgarter Kickers herumgelungert sei, schreckte die Herren nicht, an ihrem merkwürdigen Einfall vom futuristischen Rückwärtsschauen festzuhalten. Dabei hatte ich nicht die geringste Lust, mich wie ein verirrter Fantasy-Filou durch die Gegend beamen zu lassen, um irgendwann kopfüber in den Scherben mutwillig installierter Zeitfenster zu landen.

Zum Glück kam im Jahr 2011 dieser Weltwunderherbst in die Stadt, ein Wetter, das einem am Morgen den Winter und am Mittag den Sommer versprach, ehe es doch wie sonst um 4 Uhr dunkel wurde. Ich setzte mir meinen vanillefarbenen Stetson-Panama auf den Kopf, stieg zum Weißenburgpark mit seinem historischen Teehaus hinauf und schaute in die Tiefe.

Die meisten Zukunftsgucker ahnen leider nicht, dass man viel über die Gegenwart und noch mehr über die Vergangenheit wissen muss, bevor man das Wort Zukunft überhaupt in den Mund nehmen darf. Vermutlich war es nicht im Jahr 2046, als ich vom Weißenburgpark hinunter in den Kessel schaute. Allerdings fiel mir auf, dass wohl auch einhundertein Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine Atombombe dieses Gottesgeschenk vernichten könnte, das Stuttgart-Wunder namens Topografie.

Man kann Autobahnen durch eine Stadt bauen, man kann Bahnhöfe samt Gleisen und Fahrgästen versenken, man kann Würfelspiele als architektonische Geistesblitze verkaufen. Man kann sich das Rechteck als Quadratur des Kreises zurechtreden, wenn diese Art von Bauen den Investoren dient. Aber den Kessel, den kann man nicht verbiegen, so viele Dellen er auch abbekommen hat, selbst ohne Krieg.

Wenn ein altgedienter Zeitungsfritze herunterschaut vom Hügel in die Stadt und in die Vergangenheit, denkt er zwangsläufig an Blei. Das Blei-Handwerk hat man ja nicht nur erfunden, um Kanonen zu laden. Als ich 1976 zu den Stuttgarter Nachrichten kam, hat man gerade die Setzmaschinen und das Blei im Firmengebäude an der Räpplenstraße abgeschafft und Computer im neuen Haus in Möhringen installiert. 2046 glaubt keiner mehr, dass man tonnenweise Elektronik anschleppen musste, um nur einen Bruchteil dessen herzustellen, was heute das Mobiltelefon eines Babys leistet.

Hätte ich schon damals im Weißenburgpark einen Computer aus der Jackentasche ziehen und darauf herumtrommeln können - wäre dann meine Sichtweise von heute oder gar in jener Zukunft anders, in die man mich beamen will? Nein, es war noch nie eine Frage der Technik, ob man begreift, wo man ist und wie man lebt. Und sollte 2046 einer vor dem Teehaus hinunter auf die Stadt schauen, ohne eine Gänsehaut zu bekommen, dann wohl deshalb, weil andere vor ihm das Kesselwunder missachtet haben, bis die Landschaft darunter litt.

Die Idee, einem Menschen Stadtansichten aus der Zukunft abzuverlangen, ist eine Sache, die nur in der Nachpubertät erlaubt ist. Da darf man noch glauben, man könne große Sprünge machen in einer Stadt, die einen dauernd zum Treppensteigen zwingt. Sofern man sich nicht als aufstrebender Politiker sein städtisches Weltbild in Sitzungszimmern, Fernsehstudios und Tiefgaragen zusammenpuzzelt.

Wie gesagt, ich saß oben im Weißenburgpark, es war um 12 Uhr mittags oder im Jahr 2046, das ist mir wurscht. Aber ich weiß noch, dass ich mich erinnert habe, wie ich einmal einen Aufsatz darüber schreiben musste, warum ich Stuttgart liebe.

Um diese Frage zu klären, habe ich mich in die Zacke gesetzt, in jene Zahnradbahn, die geistig tiefergelegte Politiker bereits in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Erdreich verbuddeln wollten, und bin wieder einmal hinaufgefahren, damals auf die Wielandshöhe zum Wirtshaus des Kochs und Schriftstellers Vincent Klink.

Der Koch ist ein Zugezogener wie ich, und trotz aller Ungezogenheit im fremden Nest hat man sich doch immer auf diese Sichtweise von oben nach unten geeinigt: Wenn man hinabschaut ins Tal, am besten in den vom Herbst frisch gefärbten Kessel, dann spürt man dieses Ziehen im Herzen und im Schritt, das man Liebe nennt. Und dieses Oben-unten-Verhältnis, diese Berg-und-Tal-Beziehung, ist - anders als in der Politik - eine zeitlose Angelegenheit.

Wenn heute Zwotausendsechsundvierzig wäre, dann, meine Herren, wäre mir das womöglich scheißegal. Es gibt Dinge, die ändern sich nicht, auch nicht, wenn Finanzjongleure denken, sie könnten sich die Welt nach ihrem Gusto zurechtzementieren. Mit der Beton-Haltung versetzt man Bahnhöfe, aber (noch) keine Hügel.

Früher war nichts besser, das kann ich mit gutem Gewissen behaupten. Doch früher hat es Leute gegeben, die ihre Augen aufgemacht haben. Sie haben hineingeschaut in die Gegenwart und gesehen, was wir heute ignorieren: "In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf / Zum Leben, deine Wellen umspielten mich, / Und all der holden Hügel, die dich / Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir. - Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft / Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal, / Wie Leben aus dem Freudebecher, / Glänzte die bläuliche Silberwelle."

Dieses Zeilen stammen aus Hölderlins Gedicht "Der Neckar", und ich glaube nicht, dass die Silberwelle sich bis ins Jahr 2046 in Kanalrohre zwängen lässt wie der Nesenbach. Sonst wäre es ja wahr, dass der Kessel ein Knast ist. Dabei ist er ein Freudenbecher, wenn auch leicht verbeult.



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