Bauers Depeschen


Montag, 03. Januar 2011, 649. Depesche



Die aktuelle StN-Kolumne:



DIE KANONEN

Als das Jahr begonnen hatte, roch es wie so oft in der Stadt nach verschossenem Pulver. Ich mag den Geruch von Pulver, auch wenn ich es nicht erfunden habe. Das haben andere erledigt. Pünktlich zum Jahresbeginn hat der Stuttgart-21-Sprecher Wolfgang Dietrich den bahnbrechenden Satz formuliert: „Der Weiterbau ist ein wichtiges Signal für das Gesamtprojekt.“ Was er damit gemeint hat, weiß man nicht. Herr Dietrich ist auch Sponsor des baufälligen Gesamtprojekts Stuttgarter Kickers.

Wenn es noch nach Pulver riecht, haben viele Menschen bereits beschlossen, ihr Leben zu ändern. Mich geht das nichts an, ich rauche schon länger nicht mehr. Dennoch rät man mir immer wieder, mich zu ändern. Ich solle den Leuten gefälligst ihre Meinung lassen. Meinetwegen. Es gibt nichts Leichteres, als anderen Leuten ihre Meinung zu lassen – die will man doch bei Gott nicht haben.

Mein S-21-Berater, aus Gründen der Diskretion nenne ich ihn Dr. Pro, hat mir wieder geschrieben. Er kenne meine Rosa-Vergangenheits-Brillen-Meinung bestens von seinem Opa – „und die war damals so falsch wie heute“. Ich werde Dr. Pro seine Meinung lassen. Rein genetisch ist nicht auszuschließen, dass wenigstens Dr. Pros Opa ein anständiger Mensch war.

Stuttgart 2011, das konnte man am Morgen des neuen Jahres im Pulverdampf sehen, ist nicht mehr dasselbe wie damals, bevor Dr. Pro gegen seinen Opa rebellierte. Es gibt ein neues Stuttgart. Fährt man über die Stadtgrenzen hinaus, muss man die peinliche Frage, wo man herkomme, nicht länger mit geografischem Feingefühl beantworten: Na ja, unweit von München gibt es einen Vorgarten von Mercedes-Benz, wir nennen ihn Stuttgart, weil es unsere Opas so wollten.

Inzwischen können wir hinstehen, den Kopf heben und in die Welt rufen: Verdammt, wir sind aus Stuttgart, wir sind die Aufsteher, wir haben die Demokratie erfunden, als die Griechen längst pleite waren. Wer ist Ödipus? (Nein, nicht Mappus.) Wir sind die wahren Motherfucker, Obenbleiber, Kardinäle der neuen Demokratie! Gesamtprojekttechnisch wird das nicht jeder auf Anhieb verstehen. Den philosophischen Brückenschlag von Ödipus zu Motherfucker auf dem weiten Feld großer Beleidigungskunst habe ich dem jungen Satiriker und Poeten Marc-Uwe Kling geklaut. Er lebt in Berlin, ist aber in Murrhardt aufgewachsen und damit einer von uns. Herr Geißler ist keiner von uns, er klingt und riecht nur stallähnlich beim Schwäbeln.

Wie immer nach dem Jahreswechsel bin ich mit der Straßenbahn herumgefahren. Zunächst über den Neckar, um ihn zu grüßen. Dann aber hat mich das herrliche Sechs-Mast-Zelt des Weltweihnachtscircus vom Fluss abgelenkt, ich bin zurückgefahren und weiter nach Wangen.

Noch ist nicht geklärt, welche Vorteile Wangen vom Gesamtprojekt haben wird. Aber das ist eine Opa-Frage. Alle werden profitieren. Paris, Bratislava, vor allem Wangen. In Wangen bin ich herumgelaufen, vorbei an der Kneipe Ulmer Spatz, wo sich die Country-Freunde des Vereins Weißer Büffel treffen, wo die Dart-Spieler zu Hause sind – und die VfB-Fans.

Das Stichwort. Wenn du Mitglied bist im Country-Club Weißer Büffel e. V. Wangen, verstehst du mehr von den emotionalen Zusammenhängen des internationalen Showgeschäfts als die Gesamtprojektbuchhalter Staudt & Hundt beim VfB. Die wissen nichts über die Geheimnisse von Intuition und Instinkt. Da drohen Risse im Gesamtbild. Dann heißt die Endstation nicht Bratislava 21, sondern Bundesliga 2.

Auf der Fährte des weiß-roten Büffels bog ich in die Inselstraße nach Untertürkheim ein. Auf dem Platz Ecke Geislinger Straße steht eine Kanone. Seltsamerweise ist sie hinten hochgebockt, ihre Mündung scheint im Dreck zu enden. Das wollte ich im Schnee nicht näher untersuchen, da muss die Friedensbewegung ran.

Jedenfalls wurde mir klar, wo der Pulvergeruch herkommt. Stuttgart ist die explosivste Stadt der Zukunft. Wir sind das Volk der Demokratie- und Sportskanonen. Und irgendwo, das kann ich riechen, lagert das Pulverfass Stuttgart 2011 – auch wenn es sich im Kriegsfall Wangen um eine Arbeit des Bildhauers Lutz Ackermann handelt.

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