Bauers Depeschen


Sonntag, 02. Januar 2011, 648. Depesche



Beim Ausmisten habe ich einen seltsamen, sieben Jahre alten Text von mir gefunden, und den gebe ich jetzt mal weiter:



DER WEIHNACHTSAUFSATZ

Es ist einige Tage her, ich war 16, als der Lehrer befahl, man möge einen "Besinnungsaufsatz" zum Thema Weihnachten schreiben. Das war zu einer Zeit, als Protestsänger Protestlieder sangen. Ich beschloss, einen Protestaufsatz zu schreiben.

Als Szenario wählte ich eine Kleinstadt am Heiligen Abend bei einbrechender Dunkelheit und strömendem Regen. Held meiner Geschichte war ein Obdachloser, der auf einer Bank saß, in den Schneematsch starrte und mit sich selbst redete, während um ihn herum die Menschen in die Läden rannten, um sich mit Geschenken einzudecken. Bereits dieser Teil der Geschichte war verlogen, weil bei einbrechender Dunkelheit in unserem Kaff kein Geschäft mehr geöffnet hatte und auch die örtliche Polizei nie etwas von einer einbrechenden Dunkelheit gehört hatte. Auch die Sache mit dem Regen war erfunden; ich wohnte hinter den Bergen bei den sieben Zwergen, und nach alter Väter Sitte lag dort nicht nur im Winter Schnee.

Mein Deutschlehrer konnte zu jener Zeit nicht wissen, dass Jahre später Weihnachten regelmäßig ins Wasser fallen würde und es möglich war, mitten im Winter im T-Shirt auf die Straße oder in einen Biergarten zu gehen, weil die Natur verrückt spielte und der Winter ein Sommer war. Der Lehrer schrieb "Thema verfehlt" unter meinen Besinnungsaufsatz und daneben "mangelhaft". Ich habe danach kaum noch Weihnachtsgeschichten geschrieben.

Bis neulich. Da überkam es mich. Ich machte mich auf die Suche nach einer Weihnachtsgeschichte. Ich stiefelte durch die Stadt, wechselte öfter die Straßenseite als andere Leute das Hemd, ging auf den Weihnachtsmarkt - und fand nichts. Am Abend landete ich in einer Kneipe, in traf einen Freund, der sich gerade mit einem mir leidlich bekannten Musiker unterhielt. Sie sprachen über Gott, Allah und die Welt. Irgendwie kamen sie, wohl zur Erörterung der ökonomischen und mentalen Unterschiede zwischen Ost und West, auf Kühlschränke zu sprechen. Der Musiker, der früher, wie ich später erfuhr, für die Regierung in der Entwicklungshilfe tätig gewesen war, begann eine Geschichte zu erzählen. Ich hörte zu.

Vor einigen Jahren hatte der Musiker Fortbildungsprogramme für Menschen aus der Dritten Welt betreut. Damit seine Stipendiaten in Deutschland bleiben konnten, mussten sie sich einem HIV-Test unterziehen. Jedes Mal waren Kandidaten darunter, die infiziert waren. Viele von ihnen hatten es zuvor nicht gewusst. Sie reagierten unterschiedlich. Einige blieben gelassen, weil sie zehn Jahre Lebenserwartung für eine Ewigkeit hielten. Andere verfielen in Depression, es gab Suizidversuche.

Einer der Infizierten, ein Afrikaner, habe nach dem HIV-Test ungewöhnlich reagiert, erinnerte sich der Musiker. Der Mann bat die Umstehenden, ihm einen Kühlschrank zu besorgen. Einige Tage später bekam er seinen Kühlschrank, und man fragte ihn, warum er ausgerechnet jetzt, da er mit dem HIV-Virus infiziert sei, einen Kühlschrank brauche. "Wissen Sie", sagte der Mann, "dort wo ich herkomme, gibt es keine Kühlschränke. Wenn ich einen Kühlschrank besitze, kann ich ein Geschäft gründen, weil ich die Getränke der Leute in meiner Gegend kühlen kann."

Man wunderte sich, warum der Afrikaner nach der Nachricht über seinen womöglich baldigen Tod ans Geschäft dachte. "Mit einem Kühlschrank", sagte er, "ist die Existenz meiner Familie gesichert. So kann ich in Ruhe sterben." Hier endet mein Weihnachtsaufsatz.

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