Bauers Depeschen


Montag, 05. Oktober 2009, 386. Depesche



DER TRAINER SAGT: MAN MUSS DORT HINGEHEN, WO ES WEHTUT:

Joe Bauers Flaneursalon mit Buchvorstellung ("Schwaben, Schwafler, Ehrenmänner"), es spielen: Eric Gauthier, Roland Baisch & The Countryboys, Dacia Bridges. Michael Gaedt moderiert. Donnerstag, 22. Oktober, 20.15 Uhr:

www.theaterhaus.com - Kartentelefon: (0711) 4 02 07 20



UND ETWAS LEKTÜRE:

Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten



BETR.: FLANEUR

Der folgende Text, eine typische (diesmal etwas längere) Flaneur-Geschichte, ist in der Reihe „Stadtquartiere“ der Stuttgarter Nachrichten erschienen. Der Fotograf Lutz Schelhorn und ich ziehen dafür durch die Straßen.



LEBENSKÜNSTLER UND CARITAS-KINDER

Das Stuttgarter Heusteigviertel



Der Kriminalschriftsteller Wolfgang Schorlau, 58, hat eine Bleibe in der Mozartstraße. Warum seine Ecke, das Heusteigviertel, überall in der Stadt als etwas Besonderes gilt, frage ich. In Stuttgart, sage ich, gibt es kein Viertel mit Kiezcharakter und Profil, vor lauter Sehnsucht nach Urbanität verklärt man langweilige Wohngebiete zu urbanen Nischen. Du hast keine Ahnung, sagt Schorlau und reicht mir die Beweise per Mail nach: "Einmalig in Deutschland", schreibt er, "eine Kirche, eingerahmt von zwei Bordellen, rechts und links rote Lichter im ersten Stock . . ." Gemeint ist die evangelische Freikirche zwischen zwei Häusern mit Damen-Apartments in der Olgastraße.

Triumphierend rufe ich zurück: Die Olgastraße ist bereits über der Grenze zum Heusteigviertel! Schorlau lacht mich aus.

Alles eine Frage der Perspektive. Die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn, 39, hat gerade mit ihrem Stuttgart-Roman "Kürzere Tage" große Resonanz bei der Kritik erfahren. Ihre Romanfigur Marco nähert sich über die Olgastraße der Mozartstraße: "Er sah die Umrisse der nackten Frauen, die sich träge hinter den Scheiben bewegten wie Fische im Aquarium. Daneben war der Holzzaun, hinter dem der Spielplatz liegt, der mit den riesigen bemalten Betonstufen, die runter auf den Mozartplatz führen."

Damit sind wir zweifelsfrei auf Heusteig-Pflaster gelandet und bekommen eine Ahnung davon, wer das Image hier prägt. Man spricht vom "Kreativen-Viertel". Neben Autoren wie Schorlau logieren Werber und Architekten, Künstler und noch mehr Friseure in den Wohnungen, den Lofts der stattlichen Gründerzeithäuser.

Die Straßenprostitution war bis vor zehn Jahren Thema in der Heusteig- und Mozartstraße. Ordnungsbeamte beschlagnahmten die Autos von Freiern und schickten ihnen Mahnungen in der Hoffnung, die Ehefrauen bekämen Wind vom Treiben ihrer Gatten. Später hat man den professionellen Nahverkehr per Autoschranke beruhigt.

Am Mozartplatz sitzen die Leute im Freien beim Italiener Da Livio, einem Traditionslokal, das einst die Wirtslegende Ali Taner als Alte Kupferschmiede führte. Livio, wie geht's?, und dann rattert die Südmaschine: Junge, neulich beim Straßenfest habe ich Superumsatz gemacht, das kannst du dir nicht vorstellen. Signor Valenti, sage ich, behalte es für dich, sonst kommen die Freier vom Finanzamt. Und dann grinsen wir wie Mafiosi in einer Chicago-Bar. Gar nicht so übel hier.

Man kann auf die Heusteig-Bewohner neidisch werden: Du kannst kurz rübergehen auf den Wilhelmsplatz oder in die schicke Bar Fou-Fou am Rande des rotlichtgeprägten Leonhardsviertels, einen Drink nehmen und danach wieder in die Ruhe deines kopfsteingepflasterten Refugiums eintauchen - weit weg vom Trubel und doch dicht am Zentrum.

An der Ecke Heusteig-/Weißenburgstraße betreibt Fred, 63, seit 30 Jahren einen Kiosk fürs Leben. Fred's Lädle bietet Zeitungen und Zigaretten, Toto-Lotto und Papierkörbe mit Totenkopf-Design. Männer wie Fred brauchen keine amtstauglichen Namen. Fred, eigentlich Friedhelm Haubelt, ist eine Marke wie Pelikan. Selbstverständlich führt er Schulbedarf. Herr Fred, wie läuft es mit dem Umsatz? "Hier drin", sagt er, "gibt es nichts, was nicht rückwärts läuft." Nichts ist mehr, wie es war, seit die Kinder ihre Liebespoesie via Notebook und Handy senden. Papier ist nur noch für den Drucker, das Schulheft auch kein Renner, und die Mieten in den teuer restaurierten Altbauten sind hochgeschnellt.

Fred hat schon im Quartier gearbeitet, als es in der Nachbarschaft noch drei Metzger, zwei Reinigungen, eine Apotheke, die Post und den Blumenladen gab. Jetzt gibt es die Kreativen. "Die siehst du nicht", sagt Fred, "die sind nur zum Wohnen da."

Stimmt nicht ganz. Direkt gegenüber begegnet man schon mal Heusteig-Prominenz wie dem VfB-Manager Horst Heldt und seinem Trainer Markus Babbel beim Bäcker und Konditor Weible. 2010 feiert das Geschäft, vom "Feinschmecker" als eine der besten Bäckereien Deutschlands ausgezeichnet, 100. Geburtstag. Ich sitze mit Frau Hilde Weible (Jahrgang geheim) und ihrer Tochter Christine Klingenfuß-Weible, 39, neben der Backstube. Karl-Heinz Weible, der 70 Jahre alte Chef, macht Pause, wie immer hat er die ganze Nacht gearbeitet. Die Frauen haben ein Fotoalbum geholt, und mir wird schnell klar, dass ich zum Jubiläum wieder kommen muss. So viele Geschichten, die das Haus erzählen kann.

Frau Weible kam 1961 vom Land in den Laden, sie kann sich noch an die Straßenbahn, den Dreier, erinnern. Früher, sagt sie, habe sie oft mit dem Gedanken gespielt wegzugehen. Zu groß sei ihr die Stadt gewesen, diese herrschaftlichen Häuser. Und heute? "Das Heusteigviertel ist wie eine Sucht." Gott sei Dank, die Zukunft der Brezel ist gesichert. Es gibt sogar einen zweiten Bäcker im Viertel, den Hafendörfer.

Das Quartier liegt zwischen Fangelsbachfriedhof im Süden, Wilhelmsplatz im Norden, Hauptstätter Straße im Westen und Olgastraße im Osten. Seine wichtigste Nachrichtenzentrale ist die Espresso-Bar Herbert'z im Süden, Immenhofer Straße. Besitzer Herbert Okolowski, 53, in der Stadt bekannt aus Flurfunk und vom Sehen, treffe ich vor der Tür. Er ist mit einem Kleinbus unterwegs, um Biertische vom Straßenfest einzusammeln. Seine nostalgische Bar mit erstklassigen Bohnen, vielen Zeitungen und Gästen mit Gespür für Tratsch und News ist für jeden Straßenagenten ergiebiger als das Internet. Solche Bienenkorb-Plätze sind es, die den Autor Schorlau augenzwinkernd zu dem Vergleich bewegen, man fühle sich wie in den Alleen der Berliner Lifestyle-Bastion Prenzlauer Berg - "nur die Schwaben-Hass-Plakate fehlen noch".

Im gut begrünten Heusteigviertel gibt es skurrile Läden und Werkstätten, lichtgewaltige Hinterhöfe und feine Restaurants wie die Weinstube Vetter oder den Japaner Yakiniku. Alles riecht nach einer internationalen Mischung aus Antiquariat und Beauty Shop. Dennoch scheint die Großstadt weiter weg als der Mond. Entertainment kennt man nur aus der Stadtchronik, die über das Nachkriegsvarieté im Eduard-Pfeiffer-Haus, dem einstigen Landtagsgebäude, berichtet. Immerhin spielt darin noch das ABV-Zimmertheater, eine Bühne aus der Arbeiterbewegung mit Lust am Improvisieren.

Einzigartig, so scheint mir, ist das gelassene Nebeneinander im Viertel. So hartnäckig die Lifestyle-Apostel die Floskel vom Laufsteg der City verbreiten, so wenig sehen sie die Kontraste. Das Kreativen-Viertel ist in Wahrheit auch Stuttgarts Caritas-Revier. Ein halbes Dutzend sozialer Einrichtungen findet man hier, von der Psycho- bis zur Migranten-Betreuung.

Ich besuche den Schlupfwinkel, das Auffanglager für obdachlose Kinder und Jugendliche im Kolpinghaus, Schlosserstraße. Der Sozialarbeiter Thorsten Bauer, 35, sitzt zwischen zwei elektrischen Gitarren. 30 Heimatlose, die ältesten 21 Jahre alt, suchen Tag für Tag Hilfe im Haus. Dusche, Waschmaschine, Kicker-Automat stehen bereit. Thorsten kennt seine Klientel: die Punks und die schwarz gekleideten, exzentrischen Emos (spöttisch "Knochenlutscher" genannt). Die beiden Subkulturlager sind sich selten grün, tragen ihre Scharmützel aber lieber im fernen Schlossgarten aus.

Probleme mit den Nachbarn sind selten. "Die Leute", sagt Thorsten, "sind tolerant." Sie wissen vom Elend der jungen Menschen. Von den Torturen der Mädchen, die aus verwahrlosten Elternhäusern in den Schlupfwinkel flüchten. Mädchen, denen miese Typen Schlafplätze gegen Sex verkaufen. Der Krimiautor Schorlau könnte darüber Geschichten schreiben.

Zurück in der Bäckerei. Die Betriebswirtin Christine Klingenfuß-Weible hat drei Jungs, zwischen drei und zehn Jahre jung. "Bei uns herrscht ein gutes Klima für Kinder", sagt sie. "Alles Wichtige ist zu Fuß erreichbar. Man kann die Kleinen allein zur Schule gehen lassen."

Das Heusteigviertel ist wohl doch ein urbanes Stück Stuttgart mit Charakter.



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